Der geheime Basar
ihm mitschleppen und blickte in den Himmel, in die graue Luft, hoffte auf eine überraschende Wendung, die uns vor der Sackgasse retten würde.
Wir setzten uns in ein Azari-Restaurant und verkreuzten die Beine auf den Holzbänken, die mit einer bunten Teppichschicht und weichen Kissen bedeckt waren. Ein Instrumentalensemble spielte auf einer kleinen Bühne, und man musste schreien, um sich zu unterhalten. Ein Kellner füllte den Tisch mit allen Speisen auf einmal. Choreschte bademdschan, ein Auberginengericht mit Lammkeule, flaches Tabrizi-Brot mit Panir aus Schafsmilch und sämtlichen Beilagen, Joghurt, weißer Reis, aufgeschnittene Gurken und Sabzi, ein Tellerchen mit frischen Kräutern, Basilikum, Koriander, Bockshornklee, Estragon, und Zitronensaft. Ich war überhaupt nicht hungrig.
«Warum redest du nicht?», fragte Amir.
«Ich denke an ärgerliche Dinge.»
«Denk laut», beschwerte er sich, «seit wann hast du Angst, dich mit mir zu streiten?»
«Es lohnt sich nicht, Amir.»
«Was? Sag es. Meinst du, ich bin blöd? Vielleicht bin ich ja wirklich blöd, aber mir geht es gut dabei, warum kannst du dich also nicht für mich freuen?»
«Ich weiß, dass du nicht blöd bist, das ist das Problem.»
«Du denkst, dass ich über dich urteile? Dass ich von dir erwarte, ein anderer zu sein, als du bist, dass du dich änderst? Nein, Kami, ich schwör’s dir, das tue ich nicht.»
«Ich denke an Zahra. Sie liegt mir am Herzen. Ich frage mich, womit sie das verdient hat, dass die Islamische Republik eines Morgens plötzlich beschließt, dass Frauen nicht singen dürfen. Du hast offenbar eine Menge Antworten, aber ich habe nur Fragen.»
«Auch ich habe keine Antworten, ich suche sie.»
«Ich frage mich, Amir, wenn es einer Frau verboten ist zu singen, warum ist es ihr dann in einem Chor erlaubt, wo bleibt die Logik? Ich frage mich, ob das in deinen Augen eine Logik hat, dass ein neunjähriges Mädchen hier mit einem Hidschab verhüllt herumlaufen muss. Reizt sie dich sexuell? Gefährdet sie die Moral der Ajatollahs?»
Er schwieg. Wenn ich recht habe, und er weiß, dass ich recht habe, schweigt er, dachte ich. Und ich konnte mich nicht beherrschen, ich wollte wieder und wieder auf ihn einschlagen, ich spürte einen schwelenden Brand in mir, der ausbrechen musste, und ich sagte: «Um Himmels willen, erklär’s mir bitte, ich will es wirklich wissen, warum ist es Frauen verboten, Motorrad zu fahren? Fürchtet ihr, dass ihnen das Vibrieren des Motors zu gut tut? Denn Fahrrad dürfen sie ja schließlich fahren, wobei mir scheint, dass ihr vielleicht auch das besser verbieten solltet. Es ist schon lange kein neues Verbot mehr verhängt worden. Komm, wir schlagen das vor, eine Fatwa in Sachen Fahrrad, ich liebe eure Gesetze. An einem Tag verbieten sie uns allen, ein Motorrad über 250 Kubik zu haben. An einem Tag ist Billard spielen verboten, und am nächsten ist es erlaubt. Ich liebe eure Gesetze, besonders wenn die Lehrerin für Moralerziehung die Klasse betritt, sich die Mädchen einzeln zu einer Taschenkontrolle vornimmt, Schminke, Fingernägel, Frisur und Kleidung, Schuhe und Schmuck überprüft, und wenn ihr danach ist, auch noch die Finger in die Unterhose steckt, alles, Hauptsache, es ist sichergestellt, dass sie keusch und durchschnittlich sind, ohne Identität.»
«Ist die Schminke ihre Identität?», fragte Amir beherrscht. «Ist die Farbe des Nagellacks ihre Identität? Hörst du, was du da sagst?»
«Ich denke, wenn sie einen Mann wollen, sollen sie mit einem Mann zusammen sein dürfen, wenn ihnen das gefällt. Wer bist du, dass du sie deswegen zur Peitsche verurteilst?»
«Alles hat seine Logik, Kami, auch wenn sie mir nicht immer verständlich ist.»
«Das ist ein unlogischer Satz!», rief ich aufgebracht. «Du weichst bloß aus.»
«Ich meine damit, dass die Religion alles in allem versucht, die Gesellschaft zu regeln, den Menschen zu helfen, besser zu werden. Manchmal gelingt es, manchmal scheitert sie. Die Mehrheit des Volkes betet keine fünfmal am Tag und fastet nicht, wenn die Religion es vorschreibt, aber trotzdem glaubt sie an Allah und hat ihn gewählt, damit er Logik in das Chaos bringt.»
«Logik? Du siehst irgendeine Logik in der Religion?», fiel ich über ihn her. «Ich denke an meinen Nachbarn, der homosexuell ist. Das ist verboten. Ihr sagt ihm, es ist verboten, schwul zu sein, verboten, den Willen der Natur zu entstellen, aber ihr ermutigt ihn, eine bezuschusste Operation zur
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