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Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
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Ich sammelte nicht mehr als siebenundneunzigeinhalb Leichen in vierundzwanzig Stunden ein, was in der Praxis, unter der Annahme, dass ein fleißiger, aber disziplinierter und verantwortlicher Leichensammler viereinhalb Stunden pro Nacht schläft, nur fünf Leichen in der Stunde bedeutet. Ich, bei der guten Ausbildung, die wir erhalten haben, hätte zwanzig Leichen pro Stunde einsammeln können, und ich bin nicht einmal einer der Besten.»
    «Du behauptest, es habe an Leichen gefehlt?»
    «Nein, Gott bewahre, ich will sagen, dass ich auf vielen anderen Gebieten etwas hätte beitragen können. Ich wollte es. Man hat es mir nicht erlaubt.»
    «Sinnvolle Worte», sagt der Richter, «ganz entschieden.»
    «Aber ich habe viel gelernt», entschuldigt sich der Sammler.
    «Ich wünsche dir, dass du ein Leichensammleroffizier wirst, mein Junge», lobt der Richter, «ich wünsche uns allen, dass wir uns bis zum nächsten Feldzug verbessern.»
    Schaida ergreift ein Schneidemesser. Wird sie es in ihn hineinbohren?
    «Ich habe», verkündet der Richter, «anlässlich des nationalen und heldenhaften Ereignisses und zum Zeichen der Barmherzigkeit in diesen bewegten Tagen, beschlossen, euch dieses Anwesen zu überlassen, das heißt, lasst uns die Dinge beim Namen nennen, ich würde, wenn ihr wollt, ein Auge zudrücken und euch nicht mehr allzu sehr mit Forderungen zu behelligen, die mein gutes Recht sind. Nur eine symbolische Summe schickt mir zum Ersten jeden Monats, und ich würde mich freuen, gelegentlich an eurem Tisch zu Gast zu sein, wenn euch meine Gesellschaft erwünscht ist.»
    «Wir würden uns sehr freuen. Stimmt’s, meine Liebe?» Der Leichensammler strahlt, sein Leben hat sich gefunden. Das Mädchen ist erstarrt, mit einem nicht zu deutenden Ausdruck im Gesicht.
    «Ist das Essen fertig?», fragt der Richter.
    Der Richter geht, bedankt sich mit großer Höflichkeit bei seinen Gastgebern, Schaida und der Sammler spülen zusammen das Geschirr. Der Sammler ist beeindruckt. «Ein scharfsinniger und vielseitig aktiver Mensch, dieser Herr Nabidi.»
    «Das stimmt», versetzt sie ohne einen Funken von Bitterkeit oder Zynismus. Woher stammt diese unterwürfige Nachgiebigkeit, plötzlich alles zu verzeihen? Das unglückliche Mädchen.
    «Vielleicht bitten wir ihn, uns zu trauen.»
    «Möglicherweise», sie nickt mit zurückhaltender Zustimmung, «es würde mich freuen.»
    «Ich werde morgen früh zu ihm gehen.» Der Sammler ist zufrieden.
    Nacht. Liebe.
    Schwarzer Bildschirm.
    Ein sonniger Morgen, farbenprächtige Luxusfahrzeuge jener seltsamen Tage parken dicht gedrängt auf dem Gelände des Anwesens. Friedliches Gemurmel, Vogelgezwitscher. Ein Schild, umrankt von Weinblättern, «Willkommen im Hotel zum verlassenen Dorf». Bedienstete in schmucken Uniformen. Aufgetürmte Koffer. Erlesene Getränke, Appetithäppchen. Ein edler Teppich mit reichen Ornamenten gleitet über die Stufen herab, an der Empfangstheke herrscht reges Treiben. Die Crème de la Crème der Gesellschaft, ohne Zweifel.
    Die Kamera schwebt zum ersten Stockwerk hinauf. Je näher sie heranfährt, desto lauter ist ein Schrei zu vernehmen, es ist Schaidas Stimme, sie brüllt vor Schmerz. Die Qual der Geburtswehen. «Noch einen Moment», hört man eine Frau sagen, «da, gleich haben wir’s, sei stark, meine Schaida.» Jetzt sieht man sie.
    Der Leichensammler wurde nach draußen verbannt, sitzt wie auf heißen Kohlen neben der Tür. Richter Nabidi hält seine Hand, nicht hochmütig wie sonst, diesmal auch nicht gelassen, aber trotzdem eingebildet. Vielleicht ist das Baby ja von ihm? Nein. Die Tür öffnet sich, nur für unsere Augen, und dort ist die Gebärende. Und die Hebamme. Schaida windet sich in Krämpfen auf der Matratze, doch sie hat keine Kraft mehr zu schreien, sie ist ausgelaugt, ihre Arme fallen schwächlich zur Seite herab. Stille. Der Schrei eines Säuglings, der nicht zu sehen ist. Nur Schaidas Gesicht. Die Augen offen, aber leblos. Tot.
     
    Ende.

16
    Zahra hockte zusammengekauert auf einem alten Holzstuhl. Frau Safureh, auf dem Schaukelstuhl, umklammerte ihre Hand, ihre Tränen glitzerten im Dunkel, doch sie war ganz still. Babak saß auf dem Sofa, sein Oberschenkel an Schneckes getigerte Uniform gepresst, und der Soldat widersetzte sich nicht – das ist gut, er fühlt sich wohl, ein Zeichen, dass sie glücklich miteinander werden, dachte ich. Nilufar und ich waren in dem tiefen Teppich versunken. Stille.

17
    Obwohl es ein langer, strenger Winter

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