Der geheime Basar
zensierten Websites stellen etwa ein Drittel aller Sites dar, die in diesem Land angeklickt werden. Die Anzahl der persischen Blogs steht von allen Sprachen im Netz an vierthöchster Stelle. Die Regierung wird in Kürze weitere fünf Millionen Dollar für die Jagd auf imperialistische Internetverbrecher bereitstellen. Und in Isfahan wurde gestern eine Ziege geklont.
Anschließend füllten wir immer Listen mit persönlichen Zielen aus, auf einer Website namens «Dreiundvierzig Dinge» – jede Person gab mindestens dreiundvierzig Wünsche an, womit alle Benutzer ersehen konnten, wer auf der Welt die gleichen Träume hatte, wer sie schon verwirklicht hatte oder ihm helfen konnte, sie zu verwirklichen, ob es sich überhaupt lohnte und wie viel Zeit es durchschnittlich in Anspruch nehmen würde. Das Problem war, dass es mir schwerfiel, dreiundvierzig Wunschziele zu finden, denn es ist peinlich, riesige Verrücktheiten hinzuschreiben oder zu hoch hinaus zu wollen oder sentimental oder absonderlich zu klingen, wenn es sämtliche Bewohner des Planeten mitkriegen können. Also spionierten wir bei anderen. Und was wünschen sich die Menschen in ihrem Leben? Kleine Dinge, wie sich herausstellte.
Weniger Zucker essen, das Haar lang wachsen lassen, Bücher zu Ende lesen. Ein Skateboard kaufen. Lampenfieber überwinden, sich an Träume erinnern. Schulden zurückzahlen, nicht mehr als das Gehalt ausgeben. Eine Band gründen. Besser Flirten lernen, entschlossener sein, weniger pedantisch, entscheiden, was zum Teufel ich mit dem Rest meines Lebens anfangen will.
Eingeschlafene Freundschaften wiederbeleben, für wohltätige Zwecke spenden. Einen Fotokurs machen. Zehn neue Gemüsesorten probieren. Spontan sein. Ein Ziel pro Woche setzen. Einmal im Monat ein Museum besuchen. Täglich für fünf Dinge danken. Eine Kampfkunst erlernen, zwei Wochen zu Fuß gehen, egal wohin. Die Lehren des Lebens dokumentieren.
Ein Curry kochen, einen intimen Blog starten, meine Zwillingsseele treffen. Mit einem Flugzeug fliegen, die Leberflecke beim Arzt untersuchen lassen. Eine Bauchstraffung machen lassen. Dreiundvierzig Dinge aufschreiben, die ich an mir mag. Auf der Chinesischen Mauer spazieren gehen, ein guter Christ sein. Alle Hummer aus dem Delikatessengeschäft nebenan aus dem Käfig befreien. Das Land mit dem Motorrad durchqueren, die Berge mit dem Fahrrad überqueren, das nächste Auto bar kaufen. Surfen, Skifahren, ein Piercing an der Brust und im Regen küssen – aber wen?
Das Rauchen aufhören. Die Elektrogeräte im Haus reparieren. Fünf Sprachen sprechen, ein Gedicht lernen, dreißig Tage lang einmal täglich singen, meinen Körper lieben, mir nichts zu Herzen nehmen, Vegetarier werden. Mich neu verlieben. Dem Glück oberste Priorität einräumen. Mir das Internet abgewöhnen.
Wenn wir betrunken waren, linsten wir immer in eine italienische Villa, in der überall versteckte Kameras installiert waren und die voll zwielichtiger Gestalten in Unterhosen war. Wir stimmten ab und disqualifizierten jeden, der nicht fluchte, jeden, der nicht nackt durch die Wohnung rannte, nicht unter die Decken kroch, sich gegenüber Susan, der schönen persischen Italienerin, nicht gut benahm. Sie abzuwählen war wichtiger, als den Präsidenten abzusetzen, und auch befriedigender, denn es ließ fast vergessen, dass es einen Präsidenten gab, den man vielleicht besser abgesetzt hätte. Wir wollten Filme sehen, doch Filme waren, wie sich plötzlich herausstellte, eine viel zu passive Beschäftigung. Wir brauchten Realität, um sie selbst zu beherrschen; wir wollten das Tempo festlegen, von einem Ort zum anderen springen und mittendrin flüchten können, wenn es uns reichte.
Ich versuchte mit aller Macht, uns in die Welt draußen zurückzuholen, Zahra, Babak und Frau Safureh, alle miteinander. Ich schlug vor, den Zirkus im Pardis-Park zu besuchen oder den riesigen Vergnügungspark von Schahre Bazi, von mir aus sogar das Nationaltheater. Unser Club igelte sich in der Wohnung ein, der Computer thronte in der Mitte, auf einem hohen orangefarbenen Barhocker schwebend wie eine heilige Flamme, um die der ganze Salon kreiste. Zahra sagte, die Realität sei eigentlich sogar realer in dieser Kiste. Und so waren wir gefangen, aßen Pommes und bulgarischen Käse, tranken aus der Türkei eingeschleusten Alkohol, mischten Maulbeersaft mit Whisky und Tomatensaft mit Wodka. Wir redeten leise, sangen wispernd, verrammelten die Fenster, und durch den Türspion
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