Der geheime Name: Roman (German Edition)
landete im Schnee und sprang wieder auf. »Ich habe immer gefühlt, was ich ihm angetan habe! Vom ersten Moment an! Er ist auf der Reise zu meinem Kind geworden! Wochenlang habe ich ihn gestillt, hundert Mal hat er mich angelächelt. Selbst als ich ihn hierherbrachte, hat er mir noch vertraut.« Ihre Worte versanken im Heulen, sie fiel auf die Knie, krabbelte auf die unsichtbare Wand zu, die zwischen ihr und dem Jungen lag. »Mora!« Sie rief ihm leise zu, als könnten ihre Worte ihn erreichen. Doch Mora reagierte nicht auf ihre Rufe.
»Es kann sie nicht hören!«, spöttelte der Geheime. »Für sie ist es nur ein Traum, aber für das Menschenscheusal ist es die Wirklichkeit. Es ist allein hier draußen, allein mit seiner Qual, allein mit den bösen Gefühlen, die es im Eiswasser erfrieren will!«
Die Müllerstochter zuckte mit jedem seiner Worte zusammen, versuchte immer wieder vergeblich, zu Mora zu kriechen. »Er wird sich umbringen!«
Der Geheime wiegte seinen Kopf hin und her. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Es hat schon schlimmere Momente überlebt.« Sein kleiner Streich ließ eine hämische Freude durch seinen Bauch tanzen. Zum Glück konnte die Müllerstochter nicht wissen, dass die Zeit in ihrem Traum stillstand, während Mora dem Bach in Wirklichkeit schon längst entflohen war.
Sie sank an der unsichtbaren Wand zusammen. Ihr Heulen jammerte durch den Wald, immer wieder flüsterte sie den Namen des Jungen: Mora.
Der Geheime erinnerte sich an den Zettel, den er in der Decke des Babys gefunden hatte. Mit geschwungener Schrift hatte sie den Namen daraufgeschrieben. »Wie rührend. Hat sie dem armen Straßenkind etwa diesen Namen gegeben?« Der Geheime ließ seine Stimme säuseln. »Oder hat sie ihn von der armen Mutter erfahren, der sie das Kind für ein Säckchen voll Gold abgekauft hat?«
Die Müllerstochter sah erschrocken auf. Der Geheime kicherte. »Oh, erschreckt es sie, dass er das über sie weiß? Hat sie etwa geglaubt, er würde ihre Träume seit Jahren begleiten, ohne etwas über sie zu erfahren?« Er trat näher an den Bach heran, sprang über Mora hinweg und landete auf der Eisschicht des jenseitigen Ufers. Nur die unsichtbare Wand trennte ihn jetzt noch von der Müllerstochter. Dahinter war ihr Gesicht direkt vor seinem. »Da hat sie sich wohl etwas vorgemacht. Er ist derjenige, der sie am besten kennt, der Einzige, der sie überhaupt kennt. Nicht wahr?«
Die Müllerstochter wich eilig vor ihm zurück. Sie fand ihn hässlich, er spürte es genau. Sie konnte die Nähe seines Antlitzes kaum ertragen. Doch auch sie war älter geworden, hatte ihre jugendliche Schönheit schon lange hinter den Fältchen verloren, die sich durch ihre Schuld in ihr Gesicht gegraben hatten.
Der Geheime kletterte aus dem Bach, schob die unsichtbare Wand ein Stück nach hinten und trat der Müllerstochter entgegen. »Bringt sie ihm heute endlich, was sie ihm einst versprach?«
Sie fing wieder an zu kämpfen, spuckte in seine Richtung: »Du wirst meine Tochter nie bekommen! Niemals!«
Der Geheime lachte auf, spürte, wie der Sieg durch seine Adern pulsierte: »Nur hat sie ihre Tochter nicht dazu befragt. Das Mäuslein ist in seine Falle gegangen. Ganz nah ist sie bei ihm. Schon wenn der Morgen graut, ist sie seine Braut!«
Die Müllerstochter schrie auf, wollte auf ihn losgehen. Doch er hob nur die Hand und wischte sie fort aus seinem Traum. In der nächsten Sekunde war sie verschwunden, aufgewacht, allein in ihrem Bett und weit von ihm entfernt.
Der Geheime stand auf, drehte sich um und blickte auf Morasal, der bereits weiter hinten durch den Wald davonging, mit zitterndem Körper und dem vollen Bottich in seinen Händen.
* * *
Der Geheime löste sich endgültig von seinem Diener, zog sich aus der Traumwelt zurück und öffnete die Augen. Der Ring der Müllerstochter war wieder kühl unter seinen Fingern.
Wie leichtfertig sie ihn damals hergegeben hatte – ohne sich zu wundern, warum er einen kleinen Goldring gegen Berge von anderem Gold tauschte. Törichtes, gieriges Weibchen – so sehr hatte das Gold sie geblendet, dass sie nicht einmal geahnt hatte, welche Macht sie ihm mit dem winzigen Schmuckstück gab. Es war ein Geschenk ihres Liebsten gewesen, der Ring hatte ihr etwas bedeutet. Allein deshalb konnte der Geheime die Träume ihrer ganzen Familie beherrschen, die jedes einzelnen Menschen, den sie liebte – einschließlich Mora.
Und jetzt hatte er sie besiegt, nur durch die Illusion seiner
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