Der geheime Zirkel 02 - Circes Rueckkehr
Feuerschein getaucht ist. Ganz oben , in den Wolken , liegt eine goldene Stadt. In der Mitte des Bildes sind zwei miteinander ringende Engel zu sehen , deren Arme im Kampf so eng ve r schlungen sind , dass ich nicht sagen kann , wo der eine aufhört und der andere beginnt. Es ist , als würden sie ohne di e sen Kampf , der sie oben hält , ins Bodenlose stürzen.
»Haben Sie etwas gefunden , was Ihnen gefällt?« , fragt plötzlich Miss Moore neben mir.
»Ich weiß nicht« , antworte ich. »Es ist … irritierend.«
»Das sind große Kunstwerke oft. Was irritiert Sie an di e sem Bild?«
Ich betrachte die reiche Palette der Ölfarben , die Rot-und Orangetöne des Feuers; die blassen Grautöne der Engelsfl ü gel; die verschiedenen Schattierungen der Fleischtöne , die Muskeln zum Leben erwecken , sie zum Kampf stärken.
»Es scheint fast tollkühn , als ginge es irgendwie um zu viel.«
Miss Moore beugt sich vor , um die Inschrift auf der Me s singtafel unter dem Gemälde zu lesen. »Unbekannter Maler. Um 1800. Heerschar rebellischer Engel .« Sie zitiert etwas , das wie ein Gedicht klingt. › »Selbst in der Hölle gilt es , nach Herrschaft zu streben: Besser , in der Hölle zu herrschen , als im Himmel zu dienen. ‹ John Milton. Das verlorene Paradies. Erstes Buch. Haben Sie es je gel e sen?«
»Nein« , sage ich errötend.
»Miss Worthington? Miss Bradshaw?« , fragt Miss Mo o re. Sie schütteln die Köpfe. »Du lieber Himmel , was soll nur aus dem britischen Weltreich werden , wenn wir u n sere größten englischen Dichter nicht lesen? John Mi l ton , geboren 1608 , gestorben 1674. Sein episches Gedicht Das verlorene Par a dies ist die Geschichte Luzifers.« Sie zeigt auf den schwar z haarigen Engel in der Mitte. »Der herrlichste und meistg e liebte der Engel Gottes , der Engel , der aus dem Himmel g e stürzt wurde , weil er eine Rebellion gegen Gott angezettelt hatte. Nachdem sie den Himmel verloren hatten , schworen er und seine r e bellischen Engel , ihren Kampf hier auf Erden fortzuse t zen.«
Ann schnäuzt sich geziert in ihr Taschentuch. »Ich ve r stehe nicht , warum er kämpfen musste. Er war doch schon im Himmel.«
»Richtig. Aber es genügte ihm nicht , zu dienen. Er wollte mehr.«
»Obwohl er alles hatte , was er sich nur wünschen konnte?« , fragt Ann.
»Allerdings« , bestätigt Miss Moore. »Denn er musste da r um bitten. Er war abhängig von der Laune eines and e ren. Es ist schrecklich , selbst keine Macht zu haben. Z u rückgewiesen zu werden.«
Felicity und Ann werfen mir einen Blick zu und eine Welle von Schuldgefühl überschwemmt mich. Ich habe die Macht. Sie nicht. Hassen sie mich deswegen?
»Armer Luzifer« , murmelt Felicity.
Miss Moore lacht. »Das ist eine höchst ungewöhnliche Ei n schätzung , Miss Worthington. Aber Sie befinden sich damit in guter Gesellschaft. Milton selbst schien Symp a thie für ihn zu empfinden. Genau wie dieser Maler. S e hen Sie , wie schön er den dunklen Engel gemalt hat?«
Wir drei betrachten die starken , vollkommenen R ü cken der Engel. Sie scheinen fast wie Liebende , die nichts um sich herum wahrnehmen. Nur der Kampf zählt.
»Ich frage mich …« , grübelt Miss Moore , »was ist , wenn das Böse gar nicht existiert? Was ist , wenn das Böse nur der menschlichen Vorstellungskraft entspringt und es gar nichts gibt , wogegen es anzukämpfen gilt , außer u n seren eigenen Grenzen? Der beständige Kampf zw i schen unserem Wollen , unseren Sehnsüchten und unseren En t scheidungen?«
»Aber das Böse gibt es wirklich« , sage ich und denke an Circe.
Miss Moore schaut mich mit einem merkwürdigen Blick an. »Wieso sind Sie sich da so sicher?«
»Wir haben es gesehen« , platzt Ann heraus. Felicity hustet und gibt Ann einen unsanften Rippenstoß.
Miss Moore senkt ihre Stimme. »Sie haben vollkommen recht. Das Böse existiert.« Mein Herzschlag stockt. Was we i ter? Wird sie uns hier und jetzt etwas gestehen? »Es nennt sich Mädchenpensionat.« Sie schüttelt sich in gespieltem Grausen und wir kichern. Ein verkniffenes graues Ehepaar , das gerade an uns vorbeigeht , wirft uns einen missbilligenden Blick zu.
Felicity starrt auf das Gemälde , als wollte sie es berühren. »Halten Sie es für möglich , dass manche Menschen … irgen d wie nicht ganz in Ordnung sind? Dass etwas Böses in ihnen ist , das andere dazu bringt …« Sie bricht ab.
»Das andere wozu bringt?« , fragt Ann.
»Bestimmte Dinge zu tun.«
Ich weiß nicht , was
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