Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
mehrere ihrer
Finger gebrochen waren. Wie es unter der blutgetränkten Decke aussah, wagte er sich nicht vorzustellen.
Mit Mühe überwand er seine Erstarrung und ging weiter. Die alten
Frauen starrten ihn böse an, doch Andrej ignorierte ihre Blicke, umkreiste das Bett und ließ sich auf der anderen Seite auf die Knie sinken.
»Julia?«, fragte er leise. »Kannst du mich verstehen?«
Im ersten Moment erfolgte keine Reaktion. Andrej glaubte schon,
sie hätte seine Worte gar nicht gehört und setzte erneut dazu an, etwas zu sagen, doch dann drehte sie mühsam den Kopf und zwang
ihre angeschwollenen Lider, sich eine Winzigkeit zu heben. Die Augen, die dahinter zum Vorschein kamen, waren trüb vor Schmerz und
Verzweiflung, und dennoch las Andrej neben diesem Ausdruck der
Qual noch etwas anderes darin, das sich wie die Klinge eines rot glühenden Dolches tief in seine Brust bohrte.
»Geh… weg!«, stöhnte sie. »Lass mich.«
»Wer hat das getan?«, fragte Andrej. »Bitte, Julia, sag mir, wer dir
das angetan hat.«
Es war ihm unmöglich zu sagen, ob Julia nicht antworten konnte
oder wollte, doch sie schwieg jedenfalls. Trotz ihres erbarmungswürdigen Zustandes kämpfte sie mit aller Macht um ihre Fassung,
aber es war ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnte. Ein leises,
qualvolles Schluchzen entrang sich ihrer Brust und neue Tränen malten schmierige Spuren in das halb eingetrocknete Blut auf ihrem Gesicht.
Andrej hatte einen harten, bitteren Kloß im Hals. Er schluckte ein
paar Mal, um ihn loszuwerden, aber das schien es eher noch schlimmer zu machen. Mit einer enormen Willensanstrengung riss er seinen
Blick vom geschundenen Gesicht der jungen Frau los und sah zu der
krakeligen Schrift aus Blut auf der Wand über dem Bett empor. Eine
Woge heißer Wut flammte in ihm auf, so plötzlich und unbezwingbar, dass sich seine Hände um das Holz des Bettgestells schlossen
und mit solcher Kraft zudrückten, dass es zerbrach. Die alte Frau auf
der anderen Seite starrte ihn verblüfft an.
»Wer hat das getan?«, fragte nun auch Sir Oliver. Die Frage war
nicht an Julia gerichtet, sondern an die beiden knienden Frauen. Die
eine schwieg beharrlich, die andere jedoch sah den Johanniter ohne
die geringste Scheu oder gar Ehrfurcht an. Ihre Augen waren so kalt
wie polierte Steine.
»Dieser französische Ritter«, sagte sie.
»Chevalier de Romegas?« Starkey schüttelte entschieden den Kopf.
»Du musst dich irren, Weib. Das ist unmöglich.«
»Ich bin vielleicht nur ein dummes, altes Weib«, antwortete die
Frau in dermaßen verächtlichem Ton, dass sie ebenso gut vor Starkey
hätte ausspucken können, »aber ich bin nicht blind, so wenig wie alle
anderen hier. Es waren der französische Edelmann und zwei seiner
Begleiter.«
»Nur zwei?«, fragte Andrej. Er blickte kurz zum Eingang und erinnerte sich an die beiden Männer, die dort gestanden und ihnen so
erschrocken entgegengeblickt hatten. »Aber es waren doch vier Soldaten, oder?«
»Nur zwei«, flüsterte Julia. Ihr zerschlagener Mund machte es ihr
schwer zu sprechen. Die Worte waren kaum zu verstehen. Dennoch
schüttelte sie den Kopf und wiederholte: »Die beiden anderen… haben sich geweigert mitzumachen. Der Franzose hat… hat sie angeschrien und hinausgeschickt, und dann…« Wieder brach ihre Stimme
und sie brachte nur noch ein trockenes, qualvolles Schluchzen hervor.
»Haben sie dir…« Starkey brach ab und suchte sichtlich nach Worten, bevor er mit einem unbehaglichen Räuspern und ohne Julia direkt anzusehen fortfuhr: »Gewalt angetan?«
Julia antwortete nicht, sondern drehte mühsam den Kopf in ihrem
Kissen und schaute zur Tür. Pedro war nicht mit hereingekommen,
aber er stand draußen im Wohnraum. Obwohl er es vielleicht nicht
wagte, seine Mutter anzusehen, musste er jedes Wort hören, das im
Schlafgemach gesprochen wurde.
»Nein«, log sie schließlich.
Starkey wollte nachhaken, doch Andrej schüttelte rasch den Kopf
und warf ihm einen beschwörenden Blick zu. Schließlich verstand
der Engländer. »Aber du bist wirklich sicher, dass es Romegas
war?«, erkundigte er sich noch einmal. »Bitte versteh mich nicht
falsch. Ich will dir keine Lüge unterstellen. Aber es fällt mir schwer,
dies zu glauben.«
So seltsam es war - Andrej erging es ebenso. Unter allen Menschen
auf der Welt gehörte Romegas sicherlich zu denen, die er am meisten
verachtete, doch der Ritter war trotz seiner Erbarmungslosigkeit und
seines Fanatismus kein Mann, der einer

Weitere Kostenlose Bücher