Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
mit ihrer Geschicklichkeit prahlten. Andrej bestärkte sie noch in ihrem Übermut, auch
wenn er wusste, wie unbegründet er war. Es spielte keine Rolle, ob
sie nun den Stein, die Mauer oder auch nur irgendetwas in der ungefähren Richtung ihres Zieles getroffen hatten. Bei dem, was ihnen
bevorstand, war es nicht nötig, ein guter Schütze zu sein.
17. Mai 1565, zur Mittagsstunde, in der Bucht vor dem Fischerdorf
Birgu
    Das Licht der Mittagssonne brach sich auf dem spiegelnden Wasser
der Bucht und verwandelte das dunkle Blau des Mittelmeeres in einen Teppich aus aufblitzenden und wieder verlöschenden Sternen
aus purem Gold und Silber, dessen Glanz in den Augen schmerzte.
Das Meer lag ruhig da. Die Dünung schlug ganz sacht gegen die
Bordwand der schlanken Galeere, sodass man sich schon darauf konzentrieren musste, um überhaupt zu spüren, dass sich das Schiff bewegte.
    Ein sonderbarer Geruch schien vom Wasser aufzusteigen: Neben
dem typischen Aroma des Salzwassers roch es auch nach etwas
Warmem und Lebendigem. Vielleicht war es einfach nur der Geruch
von faulendem Tang - so fein, dass ihn die Sinne eines normalen
Menschen nicht wahrgenommen hätten. Vielleicht war es aber auch
die Vorahnung kommenden Schreckens, die Andrej mit Sinnen
wahrnahm, die selbst ihm noch immer nicht ganz erklärlich und deshalb manchmal unheimlich waren.
    Sein Blick tastete langsam über den schlanken Rumpf des Schiffes,
blieb an seinem Bug hängen, löste sich davon und glitt über die
Bucht bis zu dem steil aufragenden Felsen an der gegenüberliegenden Seite. Etliche Meter über der Wasserlinie markierte eine breite,
wie mit einem Lineal gezogene Linie den Höchststand der Flut, von
der sich der Meeresspiegel nun so weit entfernt hatte, wie es überhaupt ging. Der Moment war gekommen. Er hatte so lange gezögert,
wie er nur konnte, aber jetzt hatte das Wasser unwiderruflich seinen
Tiefststand erreicht und es war an der Zeit. Er musste gehen.
    Dennoch rührte er sich nicht. Es war verrückt - schließlich war es
nur ein Schiff, ein lebloses Ding aus Holz und eisernen Nägeln.
Trotzdem hatte er das Gefühl, Abschied von einem sterbenden
Freund zu nehmen. Seine Beine schienen sich zu weigern, den Befehlen seines Verstandes zu gehorchen. Obwohl ihm die Männer
ringsum immer unruhigere Blicke zuwarfen, stand er weiter wie angewurzelt auf dem Achterdeck der St. Gabriel und sah in Gedanken
noch einmal all die Schlachten an sich vorüberziehen, in denen er
von dort oben aus das Kommando über das Schiff geführt hatte.
Noch einmal sah er Freunde und Kameraden sterbend auf die Planken sinken und den beißenden Pulverhauch der beiden schweren Kanonen im Vorderkastell der Galeere über das Deck wehen, hörte er
den monotonen Schlag der Trommeln, mit denen tief im Rumpf des
Schiffes der Takt für die Ruderer vorgegeben wurde. Jeweils zu fünft
waren die Männer an die mit Schaffell bezogenen Ruderbänke gekettet gewesen, ein Beißholz an einem groben Hanfstrick um den Hals.
Wie oft mochten sie ihn verflucht haben, wenn er befahl, den Ruderschlag noch einmal zu erhöhen, um seiner Beute nachzujagen. Wie
oft hatten sie wohl zu ihrem Gott gebetet, dass die Galeere in einen
Hinterhalt geraten möge und sie endlich von ihren Ketten befreit
würden oder ihnen zumindest die Gnade eines schnellen Todes zuteil
würde, um ihren Qualen ein Ende zu machen.
    Seltsam, dachte Andrej. Es war vielleicht nur natürlich, dass er in
diesem Moment an all die Schlachten und Kämpfe dachte, die das
Schiff und seine Besatzung erlebt hatten. Doch waren es nicht die
Bilder der Siege, nicht die Erinnerungen an all die Triumphe, mit
denen er heimgekehrt war, die vor seinem geistigen Auge erschienen,
sondern eine lange Reihe von Gesichtern - die Gesichter all jener
Männer, die unter seinem Kommando ums Leben gekommen waren.
Es waren viele. Zu viele. Er versuchte sich damit zu trösten, dass es
auf diesem Schiff die geringsten Verluste an Rudersklaven gegeben
hatte, seit er das Kommando übernommen hatte, aber das bittere Gefühl blieb. Letzten Endes war er der Kapitän dieses Schiffes gewesen
und es war sein Name, den unzählige Männer mit ihrem letzten Atemzug verflucht hatten.
    Aus der Bilge erklang das dumpfe Klopfen eines Hammers. Es war
so weit. Sie hatten es getan. Andrejs Finger schlossen sich um das
Holz der fein geschnitzten Reling, während er sich vorbeugte und
seinen Blick zum unwiderruflich allerletzten Mal über das Deck

Weitere Kostenlose Bücher