Der Gejagte
Männer verließen lautlos und schnell
den großen Saal. Andrej nickte anerkennend in Richtung des Sekretärs - Starkey schien seine Aufgabe, für die Sicherheit des Großmeisters zu sorgen, ernst zu nehmen. Doch der Engländer beachtete ihn
gar nicht, sondern blickte mit finsterer Miene auf den Tintenklecks
auf seinem Schriftstück herunter. Andrej war zu weit entfernt, um die
Schrift entziffern zu können, aber er sah immerhin, dass das Blatt
nahezu voll geschrieben war. Jetzt würde Starkey von vorne beginnen müssen.
»Ihr seht, Chevalier«, sagte La Valette, »Eure Sorge um meine persönliche Sicherheit ehrt Euch zwar, ist aber überflüssig.«
Andrej sagte nichts dazu, sondern beließ es bei einem angedeuteten
Nicken, doch er teilte La Valettes Meinung ganz und gar nicht. Der
unheimliche Attentäter, der Starkey und ihn um ein Haar ausgeschaltet hätte, würde sich auch von einem halben Dutzend Posten nicht
aufhalten lassen, ganz egal, wie gut ausgebildet sie auch waren. Er
wunderte sich, dass nicht zumindest Starkey das begriff.
»Ganz, wie Ihr meint«, sagte er. »Dennoch ist es ein Fehler. Der
Dämon…«
»Jetzt hört endlich mit diesem Unsinn auf!«, fiel ihm La Valette ins
Wort. Er klang wütend. Seine Augen blitzten. »Dämon! Ungeheuer!
Warum nicht gleich der Teufel persönlich? Ich habe Euch bisher für
einen vernünftigen Mann gehalten, Delãny. Seit wann glaubt Ihr an
solche Ammenmärchen?«
Seit ich ein Teil davon geworden bin! La Valettes plötzlicher Wutausbruch überraschte ihn, umso mehr, als er die Reaktion des Großmeisters, als er dem Dämon persönlich gegenübergestanden hatte,
noch allzu deutlich vor Augen hatte. La Valette hatte miterlebt, wie
der Attentäter durch ein geschlossenes Fenster im zweiten Stockwerk
gesprungen und ohne einen Kratzer davongelaufen war - nach einem
Sturz aus dreißig Fuß Höhe auf hartes Pflaster! Aber ein einziger
Blick in La Valettes Gesicht - und mehr noch in Starkeys Augen, die
ihn mit einem Ausdruck musterten, den er nicht deuten konnte, der
aber alles andere als angenehm war - machte ihm klar, wie sinnlos
jedes weitere Wort sein musste.
Er wagte es nicht, sich an den Großmeister zu wenden und ihn damit indirekt zu tadeln, drehte sich aber im Hinausgehen noch einmal
zu Sir Oliver um und sagte: »Ich verlasse mich darauf, dass Ihr weiter nach dem Jungen sucht, bis wir zurück sind.«
»Ihr habt mein Wort«, sagte Starkey, und La Valette fügte mit ernster Miene hinzu: »Und auch das meine, Delãny - macht Euch keine
Sorgen. Das Leben des Jungen ist ebenso sicher wie mein eigenes.«
20. Mai 1565, am frühen Abend in den Küstenfelsen im Süden Maltas
Die Sonne würde in weniger als einer Stunde im Meer versinken,
doch sie hatten noch immer keine Spur des Ordensmarschalls oder
seiner Reiter gefunden.
Abu Dun hatte unmittelbar vor den Toren der Festung auf Andrej
gewartet, so nahe, wie er ihr nur kommen durfte - und das war sichtlich näher, als es den Wachen am Tor und oben hinter den Zinnen
recht war. Trotz allem hatte ihm La Valette nicht erlaubt, das Fort
selbst zu betreten, was Abu Dun mit einem noch tieferen Groll gegen
den Ordensmeister erfüllte. Es gab niemanden auf der Insel, der nicht
wusste, wer Abu Dun war und auf wessen Seite er stand. Doch das
änderte nichts daran, dass er ein Muselman war.
Seine ungewöhnliche Körpergröße, seine gewaltigen Schultern,
seine Vorliebe für schwarze Kleidung und sein riesiger Krummsäbel
machten die Sache auch nicht besser. Andrej hatte es längst aufgegeben, Abu Dun ins Gewissen reden zu wollen. Auch wenn sich der
Nubier nur zu oft einen Spaß daraus machte, den Einfaltspinsel zu
spielen, so war er doch alles andere als dumm. Er musste wissen, wie
seine Erscheinung auf die Männer und Frauen der Insel wirkte. Sie
befanden sich in der Situation von Menschen, die ausweglos in einem brennenden Haus eingeschlossen waren und tatenlos zusehen
mussten, wie die Flammen näher kamen. Und Abu Dun hatte nichts
Besseres zu tun, als mit brennenden Fackeln zu jonglieren.
Auch wenn Andrej La Valettes Entschluss, Abu Dun und ihn fortzuschicken, nach wie vor für ebenso kurzsichtig wie gefährlich hielt,
war er auf der anderen Seite doch froh, die Stadt verlassen zu können. Vielleicht brachte die Aufgabe, die der Großmeister ihnen gestellt hatte, Abu Dun für eine Weile auf andere Gedanken. Genau
genommen glaubte Andrej aber selbst nicht daran.
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