Der gekreuzigte Teufel
Aber schließlich wandte ich mich ganz der Musik zu. Ich lernte Musikinstrumente spielen - Klavier, Orgel, Klarinette, Blockflöte, Trompete; ich lernte komponieren; ich lernte die Musikgeschichte der westlichen Welt von Johann Sebastian Bach und Händel im 17. Jahrhundert bis zu Tschaikowsky und Igor Strawinsky. Ich lernte auch, wie man ein Orchester dirigiert, und noch mehr derlei Dinge. Was mir aber am meisten bedeutete, waren die Oratorien von Bach (h-Moll-Messe, Matthäuspassion), Händel (Messias) und Mendelssohn (Elias). Als mein Vater erfuhr, daß ich all diese Universitäten besucht hatte, nur um Musik zu studieren, und daß ich mich gegen die Betriebswirtschaft entschieden hatte, schickte er mir ein Telegramm, so lang wie eine Eisenbahnlinie. Er ließ mich wissen, daß die Tausende und Abertausende, die er in meine Ausbildung gesteckt hatte,nicht dafür ausgegeben worden seien, daß ich jetzt einen Universitätsabschluß im Singen hätte und einen anderen, um mir eine Gitarre über die Schulter zu hängen wie die Tagediebe im Bondeni-Viertel von Nakuru. Er befahl mir, mich entweder für die Musik zu entscheiden, und damit zu einem umherziehenden Tagedieb zu werden, oder für die Betriebswirtschaft, und damit sein Sohn zu werden. Nun, wie konnte ich ihm erklären, daß er seinen Plantagenarbeitern genau das antat, was die Reichen in Amerika den Afrikanern angetan hatten, die vor fünfhundert Jahren als Sklaven nach Amerika gekommen waren? Wie konnte ich ihm sagen, daß mir mein langer Aufenthalt in Amerika die Augen geöffnet, und ich erkannt hatte, in welche Dunkelheit Kenia von Leuten aus der Klasse meines Vaters geführt wurde? Ich antwortete ihm nicht. Aber ich entschied mich für die Musik, weil ich nicht wollte, daß Geld jemals zum beherrschenden Faktor in meinem Leben würde!
In jenen Tagen gehörte mein Vater keiner Kirche an. Aber nachdem ich aus Amerika zurückgekehrt war, entdeckte ich, daß mein Vater ein Stützpfeiler des kirchlichen Lebens geworden war — heute hat er eine eigene Familienbank in der Kirche, ganz vorne, gleich neben dem Altar —, aber das, was er mir als Undankbarkeit und Ungehorsam ankreidet, hat er mir nie verziehen. Er fragte mich: ›Lohnt es sich, auf dieser Erde sich für etwas anderes als Geld abzumühen? Wie kannst du nur das dir anvertraute Talent in der Erde vergraben wie der böse und undankbare Knecht?‹ Und er nahm seine Bibel zur Hand und las mir genau dasselbe Gleichnis vor, das uns Mwireri wa Mukiraai gestern abend in dem Matatu erzählte. Als er fertig war, sagte ich zu ihm: ›Vater, wie kann ich essen, was den Hungrigen vom Mund gerissen wurde? Wie kann ich Wasser trinken, das den Durstigen gestohlen wurde?‹ Darauf sagte er zu mir: ›Was, du willst mehr von diesen Dingen verstehen als der Reverend Billy Graham, der erst kürzlich hier war und uns eine Predigt über die anvertrauten Talente gehalten hat? Du bist es nicht einmal wert, den Staub von Billy Grahams Füßen zu wischen!‹
Als nächstes kam ihm zu Ohren, daß ich von der Universität angestellt worden war, um unsere Kultur und unsere Sitten und Traditionen zu erforschen, insbesondere die traditionelle Musik — und daran zerbrach er. Er beorderte mich wieder einmal zu sich und hielt mir vor: ›Wie kannst du es wagen, mich vor dergesamten Kirchengemeinde derart bloßzustellen? Wie kannst du es wagen, mich vor Gott bloßzustellen, daß selbst unmündige Kinder meine Blöße erkennen können? Denke an Ham, der Noahs Blöße sah und nichts tat, um sie zu bedecken! Was hat der Herr mit ihm getan? Weißt du es nicht? Er wurde auf ewig dazu verdammt, die Kinder der Finsternis hervorzubringen. Hätte Gott nicht Erbarmen gehabt und später die Kinder Sems in unser Afrika gesandt, was wäre aus uns, den Kindern Hams, geworden? Wo wären wir heute? Geh mir aus den Augen! Folge den Fußstapfen Hams! Geh und ziehe unstet durch die Welt und kehre erst wieder heim, wenn du deine Perlen nicht mehr vor die Säue wirfst und du nicht mehr die Abfälle aus demselben Trog mit den Schweinen ißt.‹
Ich gehe jetzt nie mehr nach Hause. Ich versuche, Geld zusammenzusparen, damit ich ihm eines Tages das zurückbezahlen kann, was er für meine Ausbildung ausgegeben hat; dann bin ich von allen Verpflichtungen frei.«
»Das ist ein großes Vorhaben«, seufzte Wariinga. »Wie heißt dein Vater? Vielleicht kenne ich ihn — weißt du, daß ich auch in Nakuru groß geworden bin?«
»Dann kann ich dir nicht sagen,
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