Der Geliebte
Stattdessen war ich bloß erleichtert gewesen, als ihr Auto endlich unser Grundstück verlassen hatte. Ich kam mir vor wie eine Verräterin, eine Außenstehende.
Die Straße schlängelte sich durch hohe Berge, zwischen einer Felswand und einem tiefen Tal mit einem Fluss hindurch. Ich war unterwegs nach Hause, und ab heute wäre dieses Haus jeden Montagvormittag so etwas wie die Höhle des Löwen. Bei meiner Ankunft würde ich Peter unbemerkt das Schweigegeld aushändigen müssen.
Nur jetzt, hier im Auto, hatte ich noch ein paar Augenblicke für mich. Auf einem an der Straße gelegenen Picknickplatz hielt ich an und ließ meinen Tränen weiter freien Lauf.
Ich war Peters Willkür ganz und gar ausgeliefert. Dabei hatte ich vor einem halben Jahr noch nicht einmal gewusst, dass es ihn überhaupt gab. Peter mit seinen abgefeimten Spielchen, seinen Einschüchterungen. Peter mit seinen zwei Gesichtern. Ich wünschte, dass er tot oder dass Eric ihm nie begegnet wäre.
Aber sonderbarerweise war es nicht Peter, der meine aus dem Gleichgewicht geratene Gefühlswelt beherrschte.
Ich hatte heute Nacht kein Auge zugetan, sondern unablässig nachgedacht und die Ereignisse in Gedanken Revue passieren lassen. Und während sich immer mehr Puzzlestücke zu einem teuflischen Ganzen fügten, hatte es sich angefühlt, als bekäme ich ein Messer in den Bauch gerammt, immer tiefer, immer gemeiner, immer hinterhältiger.
Alles war abgekartet gewesen. Alles.
Wenn ich die Sache mit Michel mitunter zu schön gefunden hatte, um sie für wahr zu halten, so hatte ich mich nicht getäuscht.
Die Initiative war von Anfang an von Michel ausgegangen. Schon bei unserer allerersten Begegnung, als er mir so fest in die Augen gesehen hatte. Und wer war mir zu dem kleinen See nachgegangen? Wer war mit mir nach Biganos gefahren, weil er »Probleme mit seinem Knie« hatte, um dann flink wie ein Wiesel an der Küste von Arcachon durch den Sand zu hoppeln? Wer war auf dem Fest von Peter so lange aufgeblieben, hatte Drogen und Alkohol verschmäht, um zwischen lauter halb Weggetretenen die Unschuld vom Lande zu spielen? Verdammt, sie hatten das alles im Vorhinein geplant, Peter und Michel. Jeder einzelne Schritt war gut durchdacht gewesen, und ich war wie ein Teenager darauf reingefallen.
Was wusste ich von Michel? Aus ihm selbst hatte ich nichts herausbekommen. Überhaupt nichts. Alles, was ich bis vor Kurzem noch zu wissen glaubte, basierte auf Informationen, die Eric von Peter eingeflüstert bekommen hatte. Eine mitleiderregende Geschichte über eine verpfuschte Jugend, die Michel nur noch sympathischer gemacht hatte. Und interessanter.
In der letzten Woche hatte er sich dann überhaupt nicht mehr blicken lassen. Und warum nicht? Er hatte wahrscheinlich genug damit zu tun, eine andere frisch angekommene und von ihrer abgeflauten Ehe gelangweilte Ausländerin zu verführen. Wahrscheinlich sahnte Peter auf diese Art und Weise Monat für Monat Tausende von Euro ab, und Michel vögelte sich fröhlich durch.
Dafür hatte er zweifellos Talent. Dafür war er wie geschaffen.
Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte das Wagendach an. Meine Tränen waren noch immer nicht versiegt. Mit der Hand strich ich über den Beifahrersitz. Hier hatte er gesessen. Bruchstückhaft drängten sich mir Bilder auf, Gerüche und Geräusche. Michel neben mir, im Bett, in unserem Wohnwagen. Meine Hand, die jetzt das harte Polster des Beifahrersitzes berührte, auf seinem Bauch. Michel über mir, mit einer fast schon festlichen Konzentration in den Augen. Michel mir gegenüber, im Le Pirate, mit Brot in den Händen, von dem er mir ein Stück abbrach. Michel neben mir auf dem Sofa bei der Frau, die uns so herzlich und gastfreundlich empfangen und uns Bleu geschenkt hatte. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass sie große Stücke auf Michel hielt.
Genau wie ich.
Auf das Lenkrad gestützt, ließ ich den Kopf auf die Arme sinken. Erst jetzt wurde mir bewusst, was mich in all meinem Elend am allermeisten schmerzte.
Wenn ich an Michel dachte, blieb mir jetzt nur noch die Leere, die er hinterlassen hatte. Streckte ich die Hände aus, so tastete ich in rabenschwarzer Finsternis, im Nichts umher.
Ich wusste einfach nicht mehr, was ich fühlen oder denken, geschweige denn tun sollte.
Ich konnte die vielen Gedanken und Gefühle, die mein trübes Bewusstsein unkontrolliert durchströmten, nicht mehr auseinanderhalten.
Mein Leben war zu einer großen Lüge geworden.
Die Tür
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