Der Geliebte
bereits verschwunden.
Den Nudelauflauf hatten die Jungs komplett weggeputzt. Von dem Kuchen hatte ich gerade noch rechtzeitig zwei Stücke für Isabelle und Bastian retten können. Die standen nun im Kühlschrank. Selbst hatte ich kaum etwas zu mir genommen. In den vergangenen sechzig Minuten hatte Peter mich fast ununterbrochen fixiert. Pure Einschüchterung, und sie funktionierte auch noch. Es kam mir vor, als hinge ein Schwert über dem Tisch, das jeden Augenblick herabsausen konnte.
Ich verdrängte den Gedanken, so gut es ging. Peter konnte mir nichts anhaben, das wiederholte ich mir ständig im Geiste.
Noch etwa zehn, fünfzehn Minuten, dann würde er mit Eric die Finanzen der letzten Woche durchgehen und wieder wegfahren.
Hoffte ich.
Hin und wieder sah ich zu Eric hinüber, der mir dann freundlich zuzwinkerte. Das gab mir Kraft.
Zwischen den beiden Antoines hatte sich eine Diskussion entsponnen, die mit Autos zu tun hatte. Eric hörte aufmerksam zu, Louis drehte sich seine dritte Zigarette. Peter spielte mit seinem Mobiltelefon herum.
»Was verstehst du schon von Technik?«, hörte ich Antoine fragen. »Ich hab verdammt noch mal drei Jahre in einer Werkstatt gearbeitet. Ich habe mehr Motoren in der Hand gehabt, als du in deinem ganzen Leben auch nur angeguckt hast.«
»Das kann schon sein«, sagte Pierre-Antoine, »aber du hast trotzdem keine Ahnung. Peugeot ist einfach besser als Renault. Punkt. Das weiß jeder Zwölfjährige.«
Ich nahm den letzten Schluck von meinem Kaffee und schenkte mir noch einmal nach.
Noch etwa fünf Minuten.
Antoine hob resigniert die Hände, er gab sich geschlagen. »Okay, du hast Recht, und ich hab meine Ruhe. Keine Lust mehr auf diese Diskussion.«
Peter suchte meinen Blick. Ich schlug die Augen nieder.
Es kam mir fast vor, als säße außer uns beiden niemand mehr am Tisch. Von seinen Augen schien ein regelrechter Sog auszugehen.
Ein kalter Schauder lief mir den Rücken hinunter. Ich stand auf und fing an, den Tisch abzuräumen.
»Ah, hier ist es … Simone, warte mal, ich wollte dir kurz noch was zeigen.« Peter tippte auf seinem Handy herum.
Ich biss die Zähne zusammen und sah ihn gespannt an. Plötzlich war meine Selbstsicherheit wie verflogen. »Ich hab neulich ein paar nette Fotos gemacht«, fuhr er fort. »Vor allem das hier ist ziemlich klasse.«
Mit ausgestrecktem Arm hielt er mir über den Tisch hinweg sein Handy hin, gab es aber nicht aus der Hand.
Das Foto war schräg von der Seite aufgenommen, ließ aber am Dargestellten keinen Zweifel aufkommen. Absolut keinen. Ich sah die Außenwand von Peters Haus, die Wölbung von Michels Rücken. Meine Bluse stand offen, meine Brüste lagen frei. Michels Hand unter meinem Rock, sein Kopf an meinem Hals. Ich erkannte sogar meine geschlossenen Lider - ein gestochen scharfes Foto.
»Wir brauchen zunächst ein paar Angaben von Ihnen«, sagt der flämische Dolmetscher.
Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen. Meine grauen Zellen nehmen die Informationen zwar noch auf, halten sie aber nicht mehr fest.
Er nennt mein Geburtsdatum und den Geburtsort, fragt nach dem Familienstand, nach meinem Beruf, nach dem von Eric, will wissen, wann und warum wir nach Frankreich gekommen sind.
So konzentriert wie möglich gebe ich Antwort. Die Nervosität schwingt in jedem meiner Worte mit.
Der Ermittler nuschelt dem Flamen etwas zu, auf Französisch. Der Dolmetscher wendet sich wieder an mich. »Können Sie uns sagen, wo Sie am letzten Freitagabend waren?«
Ich starre das altmodische Tonbandgerät auf dem Tisch an. Die Spulen drehen sich, alles wird aufgenommen. »Ich war einkaufen.«
Der Dolmetscher beugt sich zu dem Ermittler hinüber, sie tauschen sich in schnellem Französisch aus. »Wo waren Sie einkaufen?«, fragt der Dolmetscher.
»Im LeClerc.«
»Um welche Uhrzeit?«
Ich spüre, wie mir die Galle hochkommt. Die beißende Flüssigkeit kriecht vom Magen die Speiseröhre hinauf. Ich schlucke, erst einmal, dann noch einmal.
»Das weiß ich nicht mehr genau. Ich glaube …«
»Wann sind Sie von zu Hause weggefahren?«
Ich schließe die Augen. Ich weiß es nicht mehr. Sosehr ich mich auch zu erinnern versuche. »Ich weiß es nicht mehr«, sage ich matt.
»Wann waren Sie wieder zurück?«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern … tut mir leid.« Die Ereignisse vom vergangenen Freitag überschlagen sich in meinem Kopf. Ich will nicht daran zurückdenken. Nicht jetzt und auch nicht später. Nie mehr.
Die Blicke
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