Der Gesandte - Mein Leben fuer Palaestina Hinter den Kulissen der Nahost-Politik
Gesellschaftsschichten, der verschiedensten kulturellen Milieus und der unterschiedlichen regionalen Identitäten vermengt und allmählich miteinander verschmolzen wurden. Heraus kam eine gemeinsame, palästinensische Identität.
Etwas Derartiges gab es vor 1948 nicht. Was es bis dahin gab, das waren die Beduinen, die sesshaften Bauern, die bürgerliche Oberschicht der Städte, und einer wusste vom anderen wenig – im Land der Stämme fühlte man sich einer Sippe, einem Dorf, einer Region zugehörig, nicht einem Volk. Doch nun kamen sie von überallher, von Jaffa, Askalon, Haifa, Beerscheva, aus den Dörfern des Landesinneren, und tauschten ihre Erfahrungen aus, lebten in den Flüchtlingslagern auf engstem Raum zusammen, fühlten sich durch das gemeinsame Schicksal verbunden und nahmen sich erstmals als Angehörige eines Volkes wahr. Im Gaza der 50er-Jahre konnte man eine Nation im Anfangsstadium studieren. Und nur hier konnte die Idee eines Befreiungskampfes entstehen, der von den Palästinensern selbst ausgeht.
Im Westjordanland verlief die Entwicklung anders. Wenn ich später in Frankfurt Palästinenser aus dem Westjordanland nach ihrer Herkunft fragte, bezeichneten sie sich als Jordanier – was sie seit der Annexion durch Jordanien im Jahr 1949 rechtlich gesehen auch waren. Wer dort Widerstand gegen Israel leisten wollte, der schloss sich der Baath-Partei an, deren Programm vom Geist der arabischen Einheit inspiriert
war, in deren Praxis jedoch nationale Interessen den Ausschlag gaben. Oder er trat den arabischen Nationalisten bei, die von George Habash geführt wurden und ebenfalls panarabische Ideale vertraten. Der Traum von einer Rückgewinnung Palästinas aus eigener Kraft wurde allein im Gazastreifen geträumt. Und während die Kinder in den Schulen des Westjordanlands Lieder auf die haschemitische Königsfamilie sangen, begann für uns jeder Schultag mit dem Lied Aiduna, aiduna – Wir kehren zurück. Es war ein gesungenes Gelübde, das kollektive Versprechen einer neuen Generation, die verlassenen Häuser nicht aufzugeben, die verlorenen Plantagen nicht dem Verfall zu überlassen, das geraubte Land zurückzuerobern, und es sprach mir aus der Seele. In der Überzeugung, dass uns Unrecht geschehen war, und in der Sehnsucht nach der Heimat wurden wir alle einander ähnlich.
Mit der Demütigung unserer Vertreibung hatte ich mein Lebensthema gefunden. Natürlich wusste ich das nicht. Ein Lebensthema macht sich anfangs nur als quälender Gedanke bemerkbar, der sich einnistet. Erst allmählich lernt man, ihn als Leitmotiv der eigenen Existenz zu begreifen. Unwillkürlich sucht man trotzdem nach einem Zustand, der einen in die Zeit vor der Besitzergreifung durch das Lebensthema zurückversetzt; niemand erträgt eine beständige innere Unruhe, ohne sich von Zeit zu Zeit selbst vergessen zu können. Ich hatte das Glück, im Alter von zehn Jahren die Entdeckung zu machen: Der Zustand der Selbstvergessenheit tritt bei mir ein, wenn ich im Meer schwimme.
Wir lebten damals bereits seit Langem im Gazastreifen, ohne dass ich oder einer meiner Brüder und Freunde auf die Idee gekommen wäre, die wenigen Kilometer bis zum Strand zu laufen. Was mich anging, mochten auch die Warnungen meiner Mutter ihre Wirkung nicht völlig verfehlt haben. Wie alle Alten bei uns, insbesondere die Frauen, hegte meine Mutter das tiefste Misstrauen gegenüber dem Meer und beschwor
mich, nicht nach Westen zu laufen, nicht dem Meer zu nahe zu kommen – das Meer sei heimtückisch, es verschlinge jeden. Also blieb ich dem Meer fern.
Dann zogen wir in das Haus, das inmitten unseres Orangenhains lag. Zwischen den Bäumen dort draußen gab es ein großes gemauertes Brunnenbecken, in dem ich mir selbst das Schwimmen beibrachte. Später einmal kam ein Bademeister in einem deutschen Freibad auf mich zu und sagte: »Sie schwimmen falsch.« Wahrscheinlich hatte er recht, und deshalb befriedigte ihn meine Erklärung, ich sei mein ganzes Leben lang so geschwommen, nicht wirklich. Falsch ist falsch … Jedenfalls ließ ich mich von meinem guten Freund Mahmud Ayyad eines Tages dann doch mit ans Meer nehmen, und es war überwältigend. Ich erlebte eine nie gekannte Freude, als die ersten Wellen über mich hinwegschwappten. Eintauchen, wieder auftauchen, es war eine Lust. Von diesem Tag an kannte ich nichts Schöneres. In kurzer Zeit wurde ich zu einem sehr guten Schwimmer, schwamm immer weiter hinaus, um die Tiefe unter mir zu spüren,
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