Der Gesang des Wasserfalls
unternehmen würde. Als er an das Treffen dachte, das Madi zwischen ihm, Matthew und Connor arrangiert hatte, musste er grinsen. Obwohl er sie schon vorher kennen gelernt hatte, war es nie zu einer längeren Begegnung gekommen. Sie saßen alle recht steif im Wohnzimmer mit einem kalten Bier und besprachen Madis verrückte Idee. Bald wurde deutlich, dass Lester genauso wenig dafür war wie die beiden anderen. Doch Madis überzeugende, leidenschaftliche und beharrliche Argumente hatten schließlich den Ausschlag gegeben, und Lester hatte einfach nicht das Herz gehabt, bei seiner Ablehnung zu bleiben.
Aufgrund des Gewichts ihrer Vorräte kamen sie auf dem Fluss nur langsam voran und erreichten schließlich eine kleine Insel, eine von vielen, an der ein solides Boot aus Grünholz an einen Baum gebunden war. Lester steuerte die Insel an und rief: »Jacob … bist du da, Mann?«
Madi entdeckte ein Zelt und ein kleines Lager zwischen den Bäumen, und dann rollte sich eine Gestalt aus einer Hängematte. Ein kleiner Mann mit tief kupferfarbener Haut und kräftigen Armen und Schultern.
»Das is Jacob, er is halb Indio, halb Neger wie ich. Diese Flussleute werden Bovianders genannt.«
»Was bedeutet das?«
»Kommt von den Engländern. Weil sie ›above yonder‹, ganz oben, leben, is Boviander die Kurzform von ›above yonder‹«, erklärte Lester mit unwiderlegbarer Logik. »Sind die besten Käpt'ns und Bugmänner auf'm Fluss. Er hilft uns, mit dem Boot durch die Stromschnellen zu kommen.«
»Doch wohl hoffentlich nicht mit diesem Boot«, sagte Madi mit einem Blick auf das niedrige Freibord von Lesters Boot.
»He, du, Jacob«, rief Lester, sprang aus dem Boot und schüttelte die Hand des Mannes. Ein freundliches, zahnlückiges Lächeln war die Antwort. »Miss Madison, das is Käpt'n Jacob.«
Er salutierte leicht und kam unerwartet in Fahrt. »Is alles fertig, das Wasser sieht gut aus, Lester. Laß uns umladen, ja?«
Jacob sprach mit tiefer, heiserer Stimme, und bald waren die beiden Männer damit beschäftigt, alles in das solide Langboot umzuladen. Jacob verstaute die Ausrüstung, um das Gewicht gleichmäßig auf das sechs Meter lange Boot zu verteilen. Es wurde von einer gewaltigen Schiffsversion eines Automotors angetrieben, der auf einen Propellerschaft montiert war und leicht aus dem Wasser gehoben werden konnte.
Madi half mit, reichte Gegenstände aus dem kleinen Aluminiumboot heraus. »Was ist mit seiner Stimme?«, fragte sie leise.
»Er hat sie verloren vom jahrelangen Rufen und Singen mit den Flussleuten. Früher musste die Mannschaft rudern. Singen tat ihnen helfen, den Rhythmus zu halten.«
»Ich habe in Gwens Buch gelesen, dass die Mannschaften Shantys sangen, während sie ruderten«, sagte Madi. »Gab's da nicht eins von einem Huhn, das keine Eier legen will?«
»Ich kauft mir 'n Huhn …«
, begann Lester zu singen, und Jacob fiel gleich ein.
»Hurra, Jungs, Hurra! Ich kauft mir'n Huhn, war gar nicht so teuer, doch das dumme Ding kräht nur und legt keine Eier«
, sangen sie.
Lester grinste. »Jacob kennt 'ne Menge Lieder.« Er beäugte das beladene Boot. »Das hier is ordentliches Grünholz, tut nich gleich am ersten Felsen zerschmettern.«
»Die gute Nachricht des Tages«, witzelte Madi mehr zu sich selbst, aber sie schenkten ihr trotzdem ein zustimmendes Lächeln.
Nachdem sie sich ein bisschen gestärkt hatten, fuhren sie los, mit Lesters leerem Boot im Schlepptau, den Außenborder hatten sie sicher im Hauptboot verstaut. Madi saß in der Mitte, Lester hinten an der Ruderpinne, und Jacob stand vorne im Bug mit einem langen, soliden Paddel. Madi fragte sich, wie Jacob und Lester es schaffen würden, das schwerfällige und hoch beladene Boot unter Kontrolle zu halten, falls sie in reißendes Wasser gerieten und Schwierigkeiten bekamen.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, beruhigte Lester sie. »Nur nich nervös werden, Miss Madison, das sind nur kleine Katarakte, wo wir durchmüssen, keine großen Wasserfälle.«
Jacob unterhielt sie mit einem weiteren heiseren Shanty.
»Juliana, mein Herz, Juliana, mein Lieb
Das Mädchen von hinter den Bergen
Juliana so schön, ihr Haar lässt sie wehn
Das Mädchen von hinter den Bergen
Blaue Berge so riesig, da ist's immer diesig
Das Mädchen von hinter den Bergen
Blaue Berge so schroff, dass kein Seemann sie schafft
Das Mädchen von hinter den Bergen«
Bald wurde das Wasser unruhiger. Es waren keine großen Stromschnellen, trotzdem schoss
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