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Der Gitano. Abenteuererzählungen

Der Gitano. Abenteuererzählungen

Titel: Der Gitano. Abenteuererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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ob Ihr etwas Kleines an ihm findet!«
    Die Tafel wurde aufgehoben, und die Gäste zerstreuten sich in die verschiedenen Zimmer. Marga war der Erzählung des Trappers aufmerksam gefolgt. Ihr waren während derselben die verschwundenen Stangen und geraubten Nuggets aufgefallen, und unwillkürlich brachte sie Beides mit der Antwort des Jägers in Verbindung, der heut dem muthwilligen Wilson eine so derbe Lehre gegeben hatte. Dieser letztere hatte in Folge des erhaltenen Schlages am Abend nicht erscheinen können. Was hatten die überraschten Blicke zu bedeuten, mit welchen sich die Gegner gemessen hatten? Sie konnte die hohe, stolze Gestalt des Fremden nicht aus dem Sinne bringen. Mit welcher Schwere hatte seine Stimme der Feind getroffen, und wie weich und warm war sie dann ihr entgegengeklungen! Sie suchte einige Augenblicke unbelauschten Zusammenseins mit Tim Summerland zu ermöglichen.
    »Sagtet Ihr nicht, daß Forster nach Stenton kommen will?«
    »
Yes;
das habe ich gesagt, Miß.«
    »Könnt Ihr mir seine Person beschreiben?«
    »Sehr genau. Figur lang, breit und kräftig, Haare blond und lang, Bart ebenso, Augen blau, Mund klein, Zähne gut, Kleidung ein Jagdrock, ausgefranst und zerrissen, Leggins, ausgefranst und zerfetzt, Moccassins, ausgefranst und zersprungen, Hut, ein Stück Filz ohne Gestalt und Farbe, Pferd, ein Brauner mit weißem Stern, Waffen, eine Doppelbüchse, ein Stutzen, Messer, Tomahawk und Lariat, besondere Kennzeichen, macht Lieder und schlägt Pfahlmänner todt. So, nun könnt Ihr ihn steckbrieflich verfolgen lassen, so genau ist die Beschreibung.«
    Sie wußte jetzt genug; das seltsame Signalement paßte genau auf den fremden Jäger.
    »Werdet Ihr ihn uns einmal zuführen, wenn er da ist, Master Summerland?«
    »Wenn Ihr es wünscht, Miß, so bringe ich ihn so gewiß wie meine Mütze.«
    »Ich halte Euch beim Wort!«
    Er wandte sich wieder der Gesellschaft zu, und sie trat an das Fenster, wo der Vater stand.
    »Mutter Smolly muß vermiethet haben.«
    »Wirklich? Dann ist es erst heut geschehen. Als ich sie gestern besuchte, stand das Logis noch leer.«
    »Sie scheint also doch einen ›wahren Gentleman‹ gefunden zu haben, wie ihr Ausdruck in der Morgenpost lautet. Die Fenster sind erleuchtet, und hinter den Gardinen bewegt sich ein männlicher Schatten.«
    Der, von welchem dieser Schatten herrührte, hatte in der Bibliothek manches Buch gefunden, welches nicht ohne Werth für ihn war, und dachte erst zu ungewöhnlich später Stunde daran, die Ruhe aufzusuchen. Als er das dunkle Wohnzimmer betrat, bemerkte er, daß drüben im gegenüberliegenden Hause die Lichter des zweiten Stockes erloschen seien. Jetzt waren einige Fenster des ersten Stockes erleuchtet; die Vorhänge waren zurückgezogen; die Altanthüre stand auf, und durch diese glänzte die große, lichtverbreitende Kuppel einer Lampe, welche auf dem Sophatische stand. Eine weibliche Gestalt in weißem, luftigem Gewande glitt wie schwebend durch das Gemach. Sie trat an den Tisch; das blendendhelle Licht fiel auf ihre hohe, volle Gestalt, doch da sie von ihm abgewandt stand, so konnte er von ihrem Gesicht nichts sehen. Unbeweglich aber hielt er seinen Blick auf sie gerichtet, indem er erwartete, daß sie sich mehr seitwärts wenden werde. Jetzt erhob sie ein Buch, schlug es auf und hielt es dem Lichte näher, und weißer als ihr Gewand, weißer als das Papier glänzte wie ein selbstleuchtender Gegenstand ihre Hand zu ihm herüber.
    Schnell holte er ein Opernglas herbei, welches er auf dem Schreibtische gesehen hatte, und eilte, dasselbe vor sein Auge haltend, hinaus auf den Balkon, wo er in der Dunkelheit nicht bemerkt werden konnte. Da stand die Unbekannte nun so klar und deutlich vor ihm, als befinde er sich in ihrer unmittelbaren Nähe. Ihre Hand fesselte wieder seinen Blick. Er hatte schon manche schöne Hand gesehen, vielleicht auch eine von ihnen besungen, wie weit aber blieb alle seine Poesie gegen diese Wirklichkeit zurück! Wie graziös berührten sich ihre lang gestreckten, spitz zulaufenden Finger an dem Papiere; wie leicht und schön gebogen hob sich das Handgelenk, und wie reizend schaute der Arm aus der durchsichtigen Spitzenhülle hervor! Es war ihm, als brauche er sich nur vorzubeugen, um seine Lippen auf diese Lilienhand zu drücken, so nahe, so deutlich sah er sie vor sich. Und immer noch wollte die Eigenthümerin derselben sich nicht wenden, immer noch konnte er ihr nicht in das Angesicht schauen! Ob die Schönheit

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