Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gitano. Abenteuererzählungen

Der Gitano. Abenteuererzählungen

Titel: Der Gitano. Abenteuererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
ihrer Züge wohl mit der ihrer Hand im Einklang stand? Ihr Kopf war klein und edel geformt, und zwischen den reichen, braunen Locken, die über die Schultern herniederfielen, schaute ein zierlicheres Ohr hervor, als er in seinem Leben jemals gesehen hatte.
    Es durchfluthete ihn ein vollständig fremdes Gefühl. Es war ihm, als harre er auf eine Seligkeit, die ihm von Minute zu Minute vorenthalten werde; seine Ungeduld steigerte sich immer mehr und – da, da drehte sie sich halb um, und er erblickte dasselbe wunderbar schöne Angesicht, welches heute einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte.
    »Sie ists; ich hab’ es geahnt!«
    Heiße Wogen drängten sich nach seinem Herzen; war es von dem zu scharfen Sehen durch das Glas, ein Taumel, ein der Trunkenheit ähnlicher Zustand wollte ihn erfassen. Er kannte die Macht weiblicher Schönheit, aber er hatte sie noch nicht an sich selbst erfahren; jetzt zitterte ihr Einfluß ihm durch das tiefste Leben, und er hätte um keinen Preis der Erde die Fülle von Ahnungen und unbewußten Wünschen, welche seine Brust schwellten, hingegeben.
    Da nahm sie die Lampe und trat in das Nebengemach. Die weißen, neidischen Gardinen, welche die dortigen Fenster verhüllten, ließen nur noch ihren Schatten sehen, welcher auch bald verschwand, als sie das Licht verlöschte. Sie war schlafen gegangen.
    Noch lange stand er, ob gedankenvoll oder gedankenlos, er selbst hätte es nicht sagen können. Nicht ihre Schönheit allein hatte ihn begeistert; das Vornehme und Edle ihres Aeußeren und die Reinheit, welche sie umwebte und umschwebte wie das Licht die Sonne, hatten ihn gefangen genommen.
    »Schlaf wohl, Du herrliches, Du unvergleichliches Wesen!« flüsterte er aus überschwellendem Herzen und trat wieder in die Bibliothek zurück. Es trieb ihn hin zum Schreibtisch, es lenkte seine Hand zur Feder, und bald flossen die glühenden Stanzen auf das Papier, so glockentönig und farbenprächtig, wie sie nur die erste, alles Irdische überlodernde Liebe zu diktiren vermag. Er nahm das Blatt und las es wiederholt.
    »Meine beste Arbeit, vielleicht die einzige gute und untadelhafte von allen. Nicht ich habe sie geschrieben, sondern die himmlische Macht, die sich heute mir zum ersten Male offenbarte. Was thue ich? Darf ich oder nicht? Noch ist die Redaktion mit der Zusammensetzung des Morgenblattes beschäftigt – ja, es wird gewagt!«
    Er griff zum Hute und verließ trotz der späten Nachtstunde das Haus, um sich zur Druckerei zu begeben. Sein Beitrag wurde willkommen geheißen, und befriedigt kehrte er zurück. In der vom Monde nicht beschienenen Thornische standen zwei Personen, mit denen er in der Eile seines Ganges nicht allzuzart karambolirte, eine hohe männliche und eine zierliche, weibliche.
    »Wer da?«
    »Ich bin’s.«
    »Wer ist das?«
    »Sarah.«
    »Welche Sarah?«
    »Das Mädchen von Mutter Smolly.«
    »Ach so. Gute Nacht!«
    Die kleine, niedliche Terzerone hatte also einen Anbeter. Forster wollte in den undeutlichen Umrissen seiner Gestalt etwas Bekanntes finden, konnte aber die beiden Leute unmöglich noch mehr belästigen. Er stieg zu seiner Wohnung empor und schlief nach langer Zeit zum ersten Male wieder zwischen schwellenden Federn. Seine Ruhe war so tief und fest, daß es dem Gotte des Traumes versagt blieb, sie mit den glücklichen Bildern zu durchweben, die den Schläfer noch im Entschlummern umgaukelt hatten. –

III.
Rache
    Trotz des festen Schlafes erwachte Forster doch schon früh am Morgen. Die Toilette war schnell beendet, und dann trat er an das Fenster, um nach seinem schönen Gegenüber zu forschen. Er fand alle Fenster geschlossen, die Balkonthür aber noch wie am Abende offen. Nun ließ er seine Vorhänge zusammenfallen, und zwar so, daß er seine Beobachtung anstellen konnte, ohne selbst gesehen zu werden.
    Er hatte noch nicht lange gewartet, so bewegten sich die Vorhänge drüben und die unverkennbare, reizende Hand erschien, um sie zurückzulegen und das Fenster zu öffnen.
    Nur wenige Augenblicke war es dem Lauscher gestattet, die Erscheinung des Mädchens anzustaunen, und doch waren sie hinreichend, ihr Bild in jeder reizenden Einzelheit zu umfassen. Hätte er sie nie wiedergesehen, dies Bild würde ihn doch als Ideal weiblicher Schönheit bis über das Grab hinaus begleitet haben. Schlank und hoch war ihre Gestalt; über den vollen Busen hob sich auf einem schneeig zarten Halse ihr kleiner, wunderbar schön geformter Kopf, dessen glänzendes,

Weitere Kostenlose Bücher