Der Gladiator
durfte, daß er sie blind zurücklegte. Vitellius wußte, er würde es schaffen; aber in ihm stieg eine unheimliche Ahnung auf. »Bei der Gottheit der Minerva«, betete er im stillen, »warum ist nur diese Dunkelheit um mich?«
Instinktiv begann der Gladiator seine Schritte zu zählen. Polyclitus würde ihm entgegenkommen, ihn in Empfang nehmen, ihn beglückwünschen, viele Menschen würden ihm auf die Schulter klopfen – Vitellius nahm sich vor, sich nichts anmerken zu lassen. Niemand sollte wissen, daß dieser Baibus ihn halbtot geschlagen hatte, daß alles um ihn herum in ein milchiges, dunkles Grau getaucht war. Schließlich kam er als Sieger zurück, und Baibus zogen die Todessklaven in das Spolarium. Nein, er konnte, er durfte es nicht zeigen. So schritt er aufrecht, noch immer winkend, gezwungen lächelnd in die Richtung, in der er den roten Vorhang wußte.
Wenn ihm aber niemand entgegenkäme? Wenn sie ihn im überschäumenden Siegestaumel hinter dem Vorhang vergäßen? Wenn er plump wie ein Tier in seinem finsteren Stall gegen die Mauer rennen würde? Vitellius blieb stehen, zögerte, neigte den schwer gezeichneten Kopf, um sich an irgendeinem Geräusch zu orientieren. Vergeblich. Da rief er in seiner Verzweiflung: »Polyclitus, wir haben gesiegt!«, und im nächsten Augenblick fühlte er die rechte Hand des Lanista auf seiner Schulter. »Vitellius«, jubelte der Trainer, »du warst großartig!«
Gemeinsam gingen sie die letzten Schritte aus der Arena. Polyclitus tupfte die Stirne des Gladiators mit einem Tuch ab. Verbissen versuchte der Gladiator seinen Schmerz zu verbergen. Von allen Seiten wurde er bedrängt, geschubst und gestoßen. »Hoch, Vitellius! Du unser Größter!« Lächelnd, so gut es ging, blickte er in die Runde, bedankte sich mit freundlichen Handbewegungen und war froh, als Polyclitus ihn in den Korridor drängte, der zu seinem Ankleideraum führte.
»Der Kampf hat dich mehr mitgenommen als alle bisherigen Duelle«, meinte Polyclitus, als er den unsicheren Gang seines Schützlings bemerkte.
»Dieser Baibus war stark wie ein Bär, und seine Schläge kamen mit der Wucht eines Hammers«, antwortete Vitellius, »ich mußte meine letzte Kraft aufbieten, um ihn zu besiegen.« Er legte seinen Arm um die Schultern des Lanista. Im Umkleideraum angelangt, ließ Vitellius sich auf die Liege fallen und bat Polyclitus, die Sklaven, Sekundanten und Masseure aus dem Raum zu entfernen. »Ich möchte ein paar Augenblicke mit dir allein sein!«
Polyclitus verstand die Bitte, schickte die Leute fort und legte dem Gladiator ein feuchtes Tuch auf das Gesicht. Vitellius hielt die Hand seines Trainers fest. »Sind wir allein?« fragte er. Der andere bejahte.
Da riß Vitellius das Tuch von seinem Gesicht und sagte: »Polyclitus, sieh mich an. Sag mir, was siehst du?«
Schweigen. »Polyclitus, was siehst du«, wiederholte der Gladiator eindringlich.
»Du darfst jetzt nicht in einen Spiegel blicken«, meinte der Lanista, »deine Nase sieht nicht gut aus. Er hat dir das Nasenbein zertrümmert. Aber wir werden den besten griechischen Arzt konsultieren und dem Jupiter Capitolinus einen Stier opfern. Ich bin sicher, du wirst wieder kämpfen können.«
»Ich kann nicht in einen Spiegel blicken«, sagte Vitellius leise und faßte verzweifelt nach der Hand seines Trainers. »Polyclitus, ich sehe nichts mehr. Um mich ist alles dunkel.«
Polyclitus sah dem Gladiator ins Gesicht. Erst jetzt bemerkte er, daß dessen Blick an ihm vorbeiging. Behutsam strich er mit der Hand über den Kopf des Verletzten; ratlos fuhr er über seine Augen und wiederholte immer wieder die Frage: »Kannst du etwas erkennen?« Doch der schüttelte nur den Kopf und sagte verzweifelt: »Alles ist dunkel.«
»O ihr Götter«, brach Polyclitus in Tränen aus, »es kann doch nicht euer Wille sein, diesem tapferen Mann das Augenlicht zu rauben!« Er griff zu einem Wasserkrug und schüttete in letzter Verzweiflung dem ahnungslosen Vitellius den Inhalt ins Gesicht. »Kannst du etwas erkennen?« rief er über den Kopf des Gladiators gebeugt. »Siehst du mich?«
Vitellius verneinte und wagte nicht seine Augen zu berühren. Da griff er nach Polyclitus, bekam seinen Bart zu fassen und zog ihn ganz nahe zu sich heran. »Polyclitus«, sagte er leise, »niemand darf etwas davon erfahren, hörst du. Denn wenn ich das Augenlicht wiedererlange, dann würden die Römer bei meinem nächsten Kampf sagen, er ist alt und gebrechlich, gebt ihm einen leichten
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