Der Gladiator
Kann nicht mehr. Tu's doch …«
Vitellius holte mit dem Dreizack aus. Noch immer kreiste das Fangnetz über seinem Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sich beide in die Augen, einen kurzen Augenblick, der den Gladiatoren unsagbar lang erschien. Vitellius fühlte, wie Pugnax jetzt dachte: »Du hast gewonnen. Stoß zu. Bringe mich um. Hier stehe ich. Warum zögerst du?« Und Pugnax glaubte in den Augen seines Gegners zu lesen: »Siehst du, so weit habe ich dich gebracht. Ich habe immer gegen dich verloren, aber heute, wo es darauf ankam, heute habe ich gesiegt. Aber ich habe Angst, dir den Dreizack in den Hals zu rammen. Ich hasse dich, ich verachte dich, aber ich habe Hemmungen, dich umzubringen.«
In weitem Bogen ließ Vitellius das Fangnetz über seinen Gegner fliegen. Doch der duckte sich blitzschnell, schleuderte sein eigenes Netz dem Jungen gegen die Beine, riß es zurück, Vitellius strauchelte, ließ im Fallen den Dreizack los und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Rücken. Der Schock lähmte für einen Augenblick jedwede Reaktion. Sofort war Pugnax über ihm, stieß ihm den Fuß in die Magengrube und holte mit dem Dreizack aus. Ein einziger Aufschrei des Publikums …
Schmerzgekrümmt lag Vitellius mit weit aufgerissenem Mund im Sand der Arena, wartete auf den erlösenden Augenblick, in dem Pugnax zustach. »Tot, du bist tot!« hämmerte es in seinen Schläfen, »bist du schon tot? Worauf wartet er?« Vitellius öffnete die zitternden Augenlider, blinzelte in den großen Schatten über sich, erkannte den erhobenen Dreizack: »Jetzt, jetzt sticht er zu. Warum sticht er nicht zu? Tu's doch!« Er hätte es am liebsten herausgeschrien, dem Gegner ins Gesicht gebrüllt, aber der Todesschock verhinderte jede Reaktion. Vitellius starrte nach oben und wartete auf seinen grausamen, armseligen Tod.
Auf den Rängen tobte das Publikum »Töte ihn!« – »Warum sticht er nicht zu?« Anfeuerungsrufe mischten sich mit Beifall. »Skandal!« schrien andere. Erst allmählich löste sich das Chaos. Die, welche noch nicht erkannt hatten, was geschehen war, wurden von ihren Nachbarn auf den Tribünen aufmerksam gemacht. Mit dem Finger zeigten sie auf die Kaiserloge. Dort an der Brüstung stand Messalina mit ausgestrecktem Arm. Ihre Hand machte eine Faust. Der Daumen zeigte nach oben. Starr und zwingend hatte die Kaiserin das Aussehen einer griechischen Statue. Die Handhaltung signalisierte: Der Unterlegene wird begnadigt, ihm wird das Leben geschenkt.
Die anfänglichen Mißfallenskundgebungen wurden von einem zunehmenden Freudengeschrei übertönt. Wildfremde Menschen fielen sich um den Hals, tanzten mit emporgehaltenen Daumen auf den Tribünen, beglückwünschten sich. Nur die Wetter fluchten, denn ein mit Begnadigung endender Kampf wurde aus der Wertung genommen, das Geld war verloren.
Es dauerte eine Weile, bis Vitellius begriff, was geschehen war. Doch dann, als Pugnax von ihm abließ, fiel sein Blick auf die Kaiserloge. Noch immer hielt Messalina den rechten Arm ausgestreckt. »Warum tut sie das? Warum bei allen Göttern Roms tut sie das?« Er war zu keinem klaren Gedanken fähig, versuchte sich mühsam hochzurappeln, taumelte, hielt sich den Bauch vor Schmerz. Pugnax neben ihm preßte die rechte Hand gegen seine Wunde auf der Schulter. Beide hatten den Blick zur Kaiserloge gerichtet. Messalina ließ den Arm sinken, drehte sich um und verschwand von der Tribüne. Das Posaunensignal verkündete das Ende des Kampfes. Ein Sklave überreichte Pugnax einen Palmzweig, das Zeichen des Sieges. Die Kämpfer machten kehrt und gingen gemeinsam zurück zu dem Portal, durch das sie die Arena betreten hatten.
Pugnax sah starr geradeaus. »Das nächste Mal«, zischte er, »schicke ich dich in Plutos Reich. Du kannst dich darauf verlassen.«
Der Kontrollbeamte im Gewölbe ging zur Tafel und schrieb hinter den Namen Pugnax ein V. für vicit – er hat gesiegt. Hinter Vitellius schrieb er ein M. für missus – er wurde begnadigt.
K APITEL 5
H erolde, begleitet von Paukenschlägern, verkündeten überall in der Stadt das neueste Edikt des Kaisers: »Ich, Tiberius Claudius Cäsar Augustus Germanicus, erinnere das Volk von Rom, in Anbetracht der zu erwartenden reichlichen Weinernte alle leeren Fässer gut zu verpichen. Des weiteren sollt ihr euch vor dem Biß der in diesem Sommer besonders häufigen Viper hüten. Vipernbisse werden am besten mit dem Saft des Taxusbaumes behandelt.«
Die Römer, die den Vortrag
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