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Der Gladiator

Der Gladiator

Titel: Der Gladiator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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berittene Prätorianer an ihnen vorbei, schwerbewaffnete Kohorten marschierten in Richtung Hafen, an Wegkreuzungen standen schwerbewaffnete Prätorianer herum.
    »Was soll die Aufregung in der Stadt«, fragte Vitellius.
    »Der Kaiser ist tot«, war die Antwort.
    Vitellius und Pictor sahen sich erschrocken an: »Mögen die Götter ihm gnädig sein!«
    Weit mehr als der Tod des senilen Kaisers Claudius, den sie in letzter Zeit ohnehin nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten, bewegte die Römer der Skandal um die Vesta-Priesterin Tullia. Nach ihrer Selbstanklage hatte der Pontifex pro magistro das Urteil gesprochen: Tod durch Lebendig-Begraben, incesti causa – wegen Unzucht.
    Im sensationsgierigen Rom konnte sich niemand erinnern, einer solchen Zeremonie beigewohnt zu haben. Die letzte Anklage gegen eine Vestalin lag mehr als 125 Jahre zurück. Damals hatte die Vesta-Priesterin Fabia sich angeblich von Catilina verführen lassen. Beide leugneten jedoch, und das Verfahren war eingestellt worden. Vor genau 168 Jahren dagegen hatte der Pontifex maximus gleich drei Vestalinnen zum Tode verurteilt, nun harrten die Römer des grausamen Schauspiels.
    Angetan mit der purpurnen Toga, begleitet von zwei Liktoren, im Gefolge vier Centurionen, trat der Pontifex aus dem Haus der Vestalinnen. Die Centurionen trugen eine weißbedeckte Bahre, darauf lag, mit Stricken gefesselt, Tullia. Vibidia, die Vestalis maxima, hatte gemäß den zeremoniellen Vorschriften Tullias Vitta, den Kopfschmuck, auf das Bahrtuch gelegt.
    Neugierig reckten die Römer, die zu Zehntausenden auf den umliegenden Stufen, Podesten, Tempeln und Hallen des Forums saßen, die Hälse. Anders als sonst üblich bei öffentlichen Anlässen, war es gespenstisch still – eine eigenartige Mischung aus Betroffenheit und Neugierde. Würde das auf der Bahre festgeschnallte Mädchen klagen? Aber nicht einmal die Nächststehenden vernahmen auch nur einen Laut.
    »Gewiß ist sie ohnmächtig vor Angst«, flüsterte eine vornehme Dame ihrer Sklavin zu. Diese nickte.
    Geisterhaft hallten die Schritte der Centurionen auf dem spiegelnd weißen Marmor der Stufen des Vesta-Tempels. Hier wartete der pferdebespannte Prunkwagen, der den sechs Vestalinnen zu offiziellen Anlässen zur Verfugung stand und auch innerhalb des Stadtkerns benutzt werden durfte – ein ungemeines Privileg in einer Stadt, in der jeder Fahrverkehr verboten war. Die Centurionen stellten die Bahre zwischen den gegenüberliegenden Sitzbänken ab; dann nahmen die übrigen fünf Vesta-Priesterinnen Platz, und der Wagen setzte sich rumpelnd in Bewegung.
    Die Eltern Tullias schritten mit versteinerter Miene hinter der Kutsche her, die ein Stück die Heilige Straße entlangfuhr, zur Basilica Aemilia hin abbog und am Forum Julium vorbei ihren Weg nach Norden nahm. Ziel der schweigenden Prozession, der sich immer mehr Menschen anschlossen, war der Acker des Servius Tullius in der Nähe der Porta Collina, wo sich auch das Prätorianerlager befand. Dort hatte man auf freier Fläche ein tiefes Grab ausgehoben und ein Gewölbe aus Steinquadern gemauert. Aus der Deckenöffnung ragte eine Leiter. Im Inneren befanden sich eine Holzpritsche, eine Öllampe und Brot und Wasser für drei Tage. Doch am dritten Tag würde die Vesta-Priesterin längst erstickt sein.
    An der Hinrichtungsstätte angelangt, hoben die Centurionen die Bahre von dem Wagen und setzten sie neben der Grabesöffnung ab. Ein Henker trat hinzu; doch an diesem Tag führte seine Hand kein Schwert. Mit einem Ruck riß er das Tuch von der Bahre, ein vieltausendfacher Aufschrei ging durch die Menge. Nackt und bebend, derbe Stricke um Brust, Bauch und Beine, lag Tullia mit weitaufgerissenen Augen auf der hölzernen Trage. Der Himmel verdunkelte sich und kündigte ein Unwetter an. Mit einem Dolch durchtrennte der Henker die Fesseln. Der Pontifex trat hinzu, hob die Arme gen Himmel und sprach, während die ersten Blitze zuckten, ein lautes Gebet zu Vesta. Er bat, die Göttin möge ihrer Dienerin verzeihen. Vielen Zuschauern rannen Tränen der Rührung über die Wangen, als Henker und Pontifex Tullia bei den Armen packten und zu der Leiter geleiteten, die in die Tiefe führte.
    Unbemerkt von den Tausenden Gaffern stand ein Mann auf dem Umgang der Stadtmauer und beobachtete die Szene aus der Ferne. Er sah nicht die hilflos um sich blickenden Augen des Mädchens, das im Angesicht des Todes die ausgestreckten Hände der Eltern verschmähte und mit ihren Augen nur den

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