Der gläserne Drache
studieren. Die Mädchen nahmen die lästige Stickarbeit mit, um den Eindruck aufrechtzuerhalten, dass es ihnen damit ernst war. Schließlich würden sie ja zumindest noch einmal in der Halle Wache halten müssen, wenn Tanis und Wigo wieder in Romandos Räume zurückkehren würden.
Wie immer fanden sie Maya in ihrem Zimmer vor.
„Magritta hat mir den morgigen Tag freigegeben“, sagte sie und in ihrer Stimme schwang eine unausgesprochene Frage mit. „Ich kann morgen nach dem Frühstück nachhause gehen und brauche erst am nächsten Tag zur Mittagszeit wieder zurück zu sein. Verzeiht, dass ihr euch dann solange allein behelfen müsst!“
Anina lächelte verstehend. „Wie schön, dass du deine Familie einmal wieder besuchen kannst! Komm morgen nach dem Frühstück in unser Zimmer, dann werden wir dir dein Geld geben. Aber sieh zu, dass du es gut verbirgst und das Haus anschließend sofort verlässt! Es würde schwierig sein zu erklären, wie du an ein solches Vermögen gekommen sein wolltest.“
Ein glückliches Lächeln flog über das blasse Gesicht des Mädchens. „Seid unbesorgt, niemand wird etwas bemerken! Ich freue mich jetzt schon über die Gesichter meiner Familie, denn ich habe ihnen bisher nichts davon erzählt, damit sie sich nicht womöglich Hoffnungen machen, die ich dann nicht erfüllen kann.“
Stürmisch fiel sie den beiden Mädchen um den Hals und huschte dann hinaus.
„Aber wie kommen wir an das Geld?“ fragte Tamira. „Es ist im Zimmer der Jungen, und die werden wir bis zum Frühstück nicht sehen!“
„Da sieht man, dass wir uns noch nicht richtig an unsere Kräfte gewöhnt haben“, lächelte Anina. „Ich werde an Tanis eine Gedankenbotschaft senden, dass er es Morgen zum Frühstück mitbringt. Dann können wir es anschließend Maya in unserem Zimmer geben, ohne dass jemand etwas mitbekommt.“
Tamira schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Warum komme ich eigentlich nie auf das Nächstliegende?“ grinste sie verlegen. „Wie gut, dass ich meine schlaue Schwester habe! Natürlich geht es nur so, da wir ja nicht zu den Jungen hingehen können!
Na gut, dafür kann ich besser sticken als du!“ spottete sie. „Komm, lass uns noch ein Weilchen daran arbeiten, damit Magritta Fortschritte sieht.“
Eine Zeit lang widmeten sich die beiden noch der Stickerei, bis ihnen vom schwachen Licht der Kerzen die Augen schmerzten. Dann legten sie sich nieder.
*****
Tanis hatte Aninas Botschaft empfangen. Als der Diener ihr Zimmer verlassen hatte, schlugen die beiden den Teppich zurück und hoben die lose Diele auf. Aus dem Versteck unter dem Brett holten sie das Buch mit den Zaubersprüchen und ihren Beutel mit Geld.
Während Wigo bereits anfing, in dem Buch zu lesen, zählte Tanis dreißig Taler ab und legte sie auf den Tisch. Dann steckte er den Beutel mit dem restlichen Geld wieder in das Loch im Boden. Dann sah er sich suchend um.
„Nein, so geht es nicht!“ sagte er dann. „Ich kann dreißig Taler nicht einfach in die Tasche stecken. Sie würden bei jedem Schritt klirren, und außerdem würde es schwierig, sie den Mädchen zu übergeben. Doch wo soll ich sie hinein tun?“
Wigo sah ein wenig ungehalten von seiner Lektüre auf. „Na, hole nochmal den Beutel raus, steck zehn Talern wieder zurück und leg die anderen zwanzig einfach lose in das Loch. Den Beutel nimmst du mit! Also wo ist das Problem?“
Tanis lächelte beschämt. „Verzeih! Aber in letzter Zeit müssen wir so oft um die Ecke denken, dass man nicht mehr sieht, was einem direkt vor Augen liegt.“
Wigo grinste spöttisch. „Wieso „in letzter Zeit“?“ stichelte er. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du je anders gedacht hast. Deine Wege, etwas zu erreichen, waren zwar oftmals die Besseren, aber nie die Kürzesten!
Aber komm, setz dich zu mir und lies mit! Vier Augen sehen mehr als zwei, und da du der Gründlichere von uns beiden bist, findest du vielleicht etwas, was ich einfach überlese.“
Gemeinsam beugten sie sich über das Buch, bis ihnen vor Müdigkeit die Buchstaben vor den Augen verschwammen. Es war schon spät in der Nacht, als Wigo das Buch zuklappte.
„Komm, lass uns ins Bett gehen!“ sagte er zu seinem Bruder. „Es bringt nichts, wenn wir womöglich etwas übersehen, weil uns schon die Augen zufallen.“
Sie verstauten das Buch wieder in seinem Versteck und legten den Teppich wieder an seinen Ort. Dann krochen
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