Der gläserne Schrein (German Edition)
kräftiger Mann, steuerten auf Marysas Haus zu und hielten dort an. Sogleich öffnete sich das große Holztor, und Grimold, der alte Knecht, trat heraus, um die Pferde in Empfang zu nehmen. Fast gleichzeitig erschien Marysa in der Haustür.
Heute trug sie ein glänzendes brombeerfarbenes Kleid mit einem weiten Rock, der ihre grazile Gestalt in dichten Falten umspielte. Ihr Haar wurde wieder von einem Haarnetz zusammengehalten, goldfarben diesmal und mit weißen Perlen bestickt. Wieder lachte sie fröhlich – ein Anblick, an den er sich wohl noch gewöhnen musste, dachte Christophorus.
Der alte Mann eilte auf sie zu, sagte etwas in einer fremdländischen Zunge – Ungarisch wohl – und umarmte sie kurz, aber heftig. Augenblicke später waren er, seine beiden Begleiter und Marysa im Haus verschwunden.
Christophorus starrte noch eine Weile nachdenklich auf die Haustür, dann drehte er um und ging langsam davon.
***
Suchend sah sich Bardolf im flackernden Schein der Pechfackeln um, die ringsum in den Wandhaltern hingen. Das Vesperläuten war soeben verklungen, die Maler, Goldschmiede und ein paar wenige Zimmerleute waren dabei, ihre Arbeitswerkzeuge zusammenzuräumen und den Boden der riesigen Chorhalle zu fegen. Als er am Fuße eines der Gerüste Ansem Hyldeshagen erblickte, ging Bardolf entschlossen auf ihn zu.
«Bardolf, ich grüße dich!» Mit ausgebreiteten Armen kam ihm Hyldeshagen entgegen. «Kommst du, um dich von der Qualität meiner Arbeit zu überzeugen? Ich versichere dir, die Schlusssteine werden einen ganz vorzüglichen Goldüberzug erhalten. Drei sind bereits so gut wie fertig.»
«Ich bin hier, um dir zu sagen, dass ich ab morgen die Arbeiten wieder selbst ausführen kann», erwiderte Bardolf.
Das leutselige Grinsen auf Hyldeshagens Gesicht wurde nur eine Spur schmaler. «So, kannst du das? Und wie willst du das machen ohne deinen fähigsten Gesellen?»
Bardolf verzog keine Miene. «Piet ist tot, aber es arbeiten noch zwei weitere Gesellen und drei Lehrjungen in meiner Werkstatt.»
«Du willst Lehrjungen für die Goldarbeiten am allerheiligsten Dom einsetzen?» Der Spott war deutlich aus Hyldeshagens Stimme herauszuhören. Er hatte gerade eben so laut gesprochen, dass einige andere Arbeiter es hören konnten.
Bardolf runzelte unwillig die Stirn. «Das ist nichts, worüber du dir Gedanken machen musst, Ansem. Pack einfach dein Werkzeug zusammen und verlass diese Baustelle.»
«Der Greve hat den Auftrag mir übertragen.»
«Vertretungsweise», bestätigte Bardolf. «Mein Fuß ist wieder in Ordnung, also wird dein Einsatz hier nicht mehr benötigt. Natürlich danke ich dir für die Mühen, die du auf dich genommen hast», setzte er nach einer kurzen Pause hinzu. «Ich weiß, dass es bestimmt nicht einfach war, so kurzfristig hier einzuspringen.»
«Da hast du ganz recht», antwortete Ansem kühl. «Deswegen wäre es unsinnig, noch einmal die ganzen Werkzeuge auszutauschen. Es wäre viel sinnvoller, wenn ich die restlichen Schlusssteine vergolde.»
Bardolf schüttelte den Kopf. «Ob sinnvoll oder nicht – der Auftrag wurde vom Marienstift an mich vergeben.» Er wandte sich zum Gehen. «Ich erwarte, dass du bis morgen früh die Chorhalle geräumt hast.»
«Und wenn ich das nicht tue?», rief Ansem ihm herausfordernd hinterher.
Bardolf blieb stehen, atmete erst einmal tief durch, bevor er sich zu seinem Kontrahenten umdrehte. «Dann werde ich wohl andere Mittel und Wege finden müssen, dich hinauszubefördern.»
Die beiden Männer starrten einander einen langen Moment grimmig in die Augen. Die anderen Arbeiter, die den Disput natürlich verfolgt hatten, tuschelten miteinander und taten, als wären sie sehr beschäftigt.
Bardolf wandte sich wieder um. Er verließ die Chorhalle durch die Pfalzkapelle, in der gerade drei Kanoniker dabei waren, die heruntergebrannten Kerzen um den Altar herum und in dem großen Leuchter durch neue zu ersetzen. Einer von ihnen blickte Bardolf nach, bis er den Dom verlassen hatte, dann huschte er auf leisen Sohlen hinüber in Richtung Chorhalle.
***
Nachdem ihr Großvater sie am späten Nachmittag wieder verlassen hatte, machte sich Marysa auf den Weg zur Pfarrkirche St. Foillan, um dem Vespergottesdienst beizuwohnen. Dies tat sie nicht in erster Linie aus Frömmigkeit, sondern weil sie sich dort einmal in der Woche mit ihrer Schwägerin und Freundin Veronika traf. Durch den unerwartet langen Besuch am Nachmittag war sie schon spät dran; die Vesperglocken
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