Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
wollte nicht, dass Luc sah, in welchem Zustand ihr Cousin war.
Sie schob die Schlafzimmertür auf, die Luc wohl geschlossen hatte, bevor er losgelaufen war, um Hilfe zu holen.
Greg war auf den Beinen, er taumelte durchs Zimmer und murmelte leise vor sich hin. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Die Haushälterin hatte sich schon bei ihr beschwert, dass die Mädchen im Zimmer nicht richtig sauber machen konnten, weil Greg ihnen nicht erlaubte, die Vorhänge aufzuziehen. Der Geruch nach Gin vermischte sich mit dem süßen Duft nach Opium.
Auf dem Bett stand ein Tablett mit allem, was Greg anscheinend brauchte, um seine Opiumsucht zu befriedigen. Hatte Luc das Tablett gesehen? Amber hoffte nicht. Die Vorstellung, dass ihr Sohn dem abscheulichen Betragen ihres Cousins ausgesetzt war, widerte sie an.
»Oh, du bist’s, was? Willst du mal sehen, was dein Balg angestellt hat?«, fragte er und entfernte das blutige Taschentuch, das er sich an den Kopf hielt, um ihr die kleine Platzwunde darunter zu zeigen. »Du solltest ihm ein paar Manieren beibringen und ihm sagen, dass man nicht einfach so in ein Zimmer platzt, ohne vorher anzuklopfen.«
Amber spürte, wie ihr Zorn wuchs. Doch es hatte keinen Sinn, mit Greg vernünftig zu reden oder ihrem Zorn ihm gegenüber Luft zu machen. Er war mit Vernunftgründen nicht zu erreichen, und es hatte auch keinen Sinn, an seine Gutmütigkeit zu appellieren. Traurigkeit nahm ihrem Zorn die Spitze. Es zerriss ihr das Herz, denn sie hatte ihren Cousin als kleines Mädchen sehr bewundert und geliebt, als er auf seine erwachsene Art so nett zu ihr gewesen war. Tränen brannten ihr in den Augen, wenn sie daran dachte, wie oft Greg alles getan hatte, um sie vor der Wut ihrer Großmutter über irgendein relativ kleines Vergehen zu beschützen. War sie ihm für diese Freundlichkeit nicht etwas schuldig? Das Problem war nur, dass Gregs Vergehen nicht unbedeutend waren, und er war kein kleiner Junge. Er war nicht mehr der Greg, mit dem sie aufgewachsen war und den sie geliebt hatte. Das war das eigentlich Tragische – dass Greg sich durch seine eigene Schwäche zerstört hatte.
»Hör auf, mich so anzusehen, Amber«, fuhr er sie an. »Es ist nicht meine Schuld. Du hast gut reden, du verstehst das nicht, du weißt nicht, wie es ist, nachts wach zu liegen, und die Haut juckt, als würde eine Herde Ameisen darüberkrabbeln und einen beißen, einen bei lebendigem Leib auffressen, einem Haut und Hirn wegknabbern. Ich höre, wie sie mich zerkauen. Deswegen muss ich trinken. Es tötet sie, weißt du. Ich muss es tun.« Er schwitzte und zitterte gleichzeitig und kratzte sich am Arm, während er unruhig im Zimmer auf und ab lief.
Amber wünschte sich verzweifelt, Robert wäre zu Hause. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Wo blieb Gregs Kammerdiener? Bitte, lieber Gott, mach, dass Luc jetzt nicht zurückkommt und Greg sieht. Jay wüsste, was zu tun wäre und wie man Greg beruhigen könnte. Jay … sie vermisste ihn so sehr, doch sie durfte nicht an ihn denken, nicht jetzt, nie wieder.
»Verdammt, ich brauche was zu trinken«, fuhr Greg sie an.
Jemand öffnete die Schlafzimmertür. Gregs Kammerdiener. Amber drehte sich erleichtert um und erstarrte, als sie stattdessen Blanche sah.
»Was ist hier los? Der Lärm ist bis zum anderen Ende des Flurs zu hören.«
»Es ist alles in Ordnung, Großmutter. Greg und ich haben uns nur ein wenig unterhalten.«
Amber war nicht sicher, wen sie zu schützen versuchte, Greg oder ihre Großmutter.Vielleicht beide.
Blanche richtete den Blick von Ambers ängstlichem Gesicht auf ihren Enkel. Hielt Amber sie wirklich für eine altersschwache Närrin, die man vor der Wahrheit schützen musste? Wenn ihre Enkelin glaubte, sie wüsste nicht, was mit Greg los war, war sie die Närrin.
»Ihr verdammter Sohn ist schuld daran«, beschwerte Greg sich und zeigte das blutige Taschentuch vor, »platzt hier einfach rein.«
Blanche richtete einen scharfen Blick auf Amber. »Luc hat das gesehen?«, wollte sie wissen.
Amber brauchte ihre Großmutter nicht zu fragen, was sie mit »das« meinte.
»Ich glaube nicht. Ich hoffe nicht«, erwiderte sie. »Er hat nur gesagt, Greg wäre gestürzt. Ich habe ihn losgeschickt, um Gregs Kammerdiener zu suchen.«
Blanche sah ihren Enkel an. Sein Anblick erfüllte sie mit Bitterkeit und Ekel. Wie konnte er so ein Narr sein? Wie konnte er sein Leben so vergeuden? Wie konnte es sein, dass er einen so jämmerlichen,
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