Der gleiche Weg an jedem Tag
Fünfziger«, wiederholte Mutter, aus Angst vor den Augen rundum kam sie sich nackt vor und begann zugleich vor Entrüstung zu beben. »Ich weià es genau, ich hatte einen Fünfziger dabei, da â¦Â«
»Was weià ich, was Sie damit gemacht haben? Wie, soll ich denn draufzahlen, weil Sie mit den Gedanken woanders sind?«
»Noch nicht mal anständig reden können Sie«, sagte Mutter; die Wut über die Demütigung pochte heià gegen ihre Schläfen. »Ich werde mit dem Verantwortlichen reden, so geht das doch nicht.«
»Meinetwegen!«, schrie die Kassiererin. »Meinetwegen beschweren Sie sich, wo Sie wollen ⦠Der Nächste! Wer ist dran? ⦠Los, weiter, ich werdâ doch nicht die Nacht mit der hier verbringen â¦Â«
Mutter trat nicht zur Seite, sondern verharrte in dem stickigen Stimmengewirr, wobei sie die Brieftasche auf und zu klappte.
»Hier war er â¦Â«, sagte sie und sah die anderen erwartungsvoll an, doch die hatten nichts gesehen oder hatten es eilig.
»Nun lassen Sie mal«, rief jemand von hinten, »und beim nächsten Mal passen Sie besser auf â¦Â«
Im Gehen umklammerte sie das weiche Päckchen in grobem Papier mit ihren Fingern so fest, als wollte sie es wegwerfen. Es war bestimmt ein Fünfziger, sagte sie sich, ich hatte ja nur den, aber je länger sie daran dachte, desto verworrener erschienen ihr die Umstände. Sie nahm einen neuen Anlauf, um die Dinge in Ordnung zu bringen: Nein, gewechselt habe ich ihn nicht, die Kerzen habe ich von zu Hause mitgebracht ⦠Wieder überkam sie wilder, ohnmächtiger Hass, und sie beeilte sich, nach Hause zu kommen, denn am liebsten wäre sie umgekehrt. Und als wäre sie umgekehrt, war alles wieder da und raubte ihr den Atem, die lärmende Hitze im Konsum und ihre abweisenden, misstrauischen Blicke und das verzerrte Gesicht der Kassiererin, die sofort zum Gegenangriff überzugehen wusste, ohne sich darum zu scheren, ob sie recht hatte oder nicht. Wenn sie nur nicht schweigen und nach Hause gehen müsste, vergiftet von dem Zweifel an ihrem Recht und diesem unerträglich verdrossenen Selbstmitleid, mit pochenden Schläfen und einer Entrüstung, die alles um sie herum rot verschleierte â¦
Der Abend wirbelte den Staub auf wie eine Nebelwand und lieà über den Blocks zwischen zwei Wolken eine glatte rote Sonne hervortreten. Langsam ging sie die Treppen hinauf, doch als sie oben war, wusste sie nicht weiter. Aus einer angelehnten Tür im zweiten Stock drang durch den üppig mit Teppichen ausgelegten Flur eine bekannte Melodie. Und ihr schien, als gelangte sie gar nicht bis zu ihrem Gehör, sondern verhedderte sich in der Luft.
»Guten Abend«, sagte die Nachbarin. »Unsere Sache ist durch, alles geregelt! Ich habe noch einmal mit dem Vorsitzenden gesprochen, ab Montag ist die Wäschekammer geöffnet â¦Â«
»Endlich â¦Â«, murmelte Mutter und kramte in der Handtasche nach den Schlüsseln. »War auch höchste Zeit.«
»Ach, fast hätte ichâs vergessen«, sagte die andere. »Ein Mann hat Sie gesucht, vorhin â¦Â«
Später sollte Mutter erzählen, sie habe von Anfang an, schon als sie in der Tasche nach dem Schlüssel wühlte, ein Vorgefühl gehabt, und der Augenblick vor der geschlossenen Tür sei ihr zur Ewigkeit erstarrt. Aber der Blick zurück über Jahre hatte die Dinge mit Sinn aufgeladen und sie miteinander verbunden. Sie wurden auf- und abgewertet, bekamen positive und negative Vorzeichen wie in der Algebra, aber alles hatte eine Bedeutung, alles verkettete sich mit einer einzigen Zielrichtung.
»Was für ein Mann?«, fragte Mutter mit einer Stimme, in der keine Hoffnung mehr liegen sollte.
»Was soll ich sagen? Er hat gesagt, er ist eng verwandt mit Ihnen und er kommt heute Abend wieder ⦠Ich habe ihm gesagt, Sie müssten jeden Augenblick da sein â¦Â«
Doch er kam bereits die Treppe herauf und war auch schon bei ihnen.
»Von Ihnen haben wir gerade gesprochen«, rief die Nachbarin.
Jetzt erst lieà Mutter den Schlüssel im Schloss stecken und taumelte gegen das Geländer. Da stand sie nun mit zusammengezogenen Brauen und um den Handlauf gekrampften Fäusten und versuchte ihn wiederzuerkennen.
Kapitel XVII
D idi lief an der Seite des Saales zwischen denen, die auf den Film warteten, auf und ab.
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