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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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Einige waren schon nach einer halben Stunde gegangen, als sie sahen, dass die Assistentin nicht auftauchte.
    Von der Bank, in der ich saß, sah ich Ene und Sergiu beim Tischfußball zu. Sergiu Stănescus kindlich spitze und Enes klobige Finger mit schwarzgeränderten und von Haut überwucherten Nägeln schnippten die funkelnden Münzen. Die anderen Jungs lehnten lässig an der Wand und schauten zu. Die Mädchen standen gelangweilt mit ihren Handtaschen am Kleiderständer, hin und wieder sahen sie hinüber zum Katheder, ob das Match noch nicht zu Ende war.
    Â»Tooor!«, brüllten die Jungs.
    Nur Sergiu hatte mit vor Erregung schriller Stimme noch etwas einzuwenden.
    Â»Das wär’s dann …«
    Ene hatte seine Fäuste auf das Katheder gestemmt. Sein langes, fettig glänzendes Haar überdeckte die Hälfte seines siegesgewissen Gesichts.
    Â»Es ist gegen die Regel«, wiederholte Sergiu und zuckte mit den schmalen Schultern unter dem bis obenhin zugeknöpften weißen Hemd.
    Er war der Einzige in der Gruppe, der Tag für Tag eine Krawatte trug.
    Â»Bleib mir doch vom Leib mit deinen Regeln, Menschenskind, was is’, hast du’s mit den Augen?«
    Ene scharrte die Münzen zusammen, wandte sich ab und griff nach der Zigarettenpackung in der Brusttasche seines karierten Hemdes, das er zur Hälfte offen über der Hose trug.
    Â»Der Dumme bin ja ich«, brummte er, »denn ich lern’ es nie und mach’ mir Stress mit einem Stümper wie dir …«
    *
    Â»Du sollst zur Kaderabteilung.« Wieso war Bucur plötzlich neben mir?
    Ich stand auf, meine Knie waren plötzlich weich, und meine latente Unterwürfigkeit ließ meine Stimme höflich säuseln. Und das vor Bucur, dessen Grammatikfehlerquote wir uns abends im Zimmer genüsslich ausrechneten … Vor Bucur, der trotz der Rekorde an Grammatikfehlern bei den Prüfungen nur Neunen und Zehnen kriegte. Bucur, dem großen Macker in den universitätsweiten Kommunistischen Jugend-, Studenten- und sonstigen Verbänden.
    Â»Ich allein?«
    Â»Aus deiner Gruppe nur du … Da sind noch zwei aus der anderen Gruppe, ich gehe die nachher suchen …«
    Er zog ein Streichholz aus der Schachtel, bohrte damit zwischen den Zähnen, wandte sich ab und ging zur Tür. Feucht überlief mich ein undeutliches Schuldbewusstsein. Ich ging bis zur Tür, legte die Hand auf die Klinke und ging dann mit ebenso unsicherem Schritt zurück. Das Pochen des Blutes an den Schläfen betäubte mein Gehör mehr noch als der Lärm rundum, mit dem die Leute ihre Sachen packten, einander zuriefen und die Sitze zurückklappten.
    Â»Ich muss zur Kaderabteilung«, raunte ich Nana ins Ohr und sah ihr tief in die Augen.
    Doch sie nickte nur, streichelte mechanisch meine Hand und wandte sich Silviu zu.
    Dann musste er zur Kaderabteilung, dann musste sie zur Kaderabteilung … – wie oft hatte ich diesen Satz schon gehört? Und warum kam nach diesem Satz nichts mehr? Was passierte mit denen, die zur Kaderabteilung mussten?
    Ich blieb noch bei Nana, ich wartete auf ein Zeichen, aber sie redete weiter, ohne auf mich zu achten, der war völlig egal, was mir passieren würde, dachte ich feindselig. Was konnte mir denn eigentlich passieren? Ich hatte keine Ahnung, aber in meiner Erinnerung gab es bruchstückhafte und unerklärliche Geschichten, die ich irgendwann (eigentlich immer wieder, seit es mich gab) gehört hatte. Ich durchquerte die wie immer zu dieser Stunde summende Eingangshalle. Ich setzte mich auf die Bank in der Nische und suchte in der Tasche nach einer Zigarette. Ich musste ein bisschen sitzen und nachdenken, ich konnte nicht unvorbereitet da hingehen. Mit fahrigen Händen zündete ich mir die Zigarette an. Ich musste herausfinden, was die mir vorwerfen konnten, und mir Antworten zurechtlegen. So hatte Onkel Ion es mir beigebracht, folglich machten es alle so. Da war nur noch etwas, was mir schleierhaft erschien und mich noch angreifbarer machte. Ich war außerstande, mir etwas von dem vorzustellen, was mich erwarten mochte, mir schwirrte der Kopf von zahllosen Geschichten über Verhaftungen und Verhöre.
    Dabei war ich bereit, alles, was sie mir vorwerfen mochten, sofort mit gesenktem Kopf anzunehmen. Woher nur kam dieses tiefe und undeutliche, aber lebhafte Schuldempfinden, das es bei mir immer schon gegeben haben musste?

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