Der Glucksbringer
schaden.«
Er drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Du bist unschlagbar. Und eine von den Intelligenzbestien, die fast nie die Nase in ein Buch stecken und trotzdem
super abschneiden. Ich dagegen hab mir den Arsch aufgerissen für meine Noten.«
Linda schenkte ihm ein strahlendes »Weiß ich doch alles«-Lächeln und stürzte den letzten Schluck Kaffee hinunter. Sie hatte eben Glück und war mit einem phänomenalen Gedächtnis gesegnet. Adam, ihr älterer Bruder, inzwischen Anwalt, und ihre Schwester Michelle, die als Lehrerin arbeitete, beneideten sie darum. Ihre Eltern, Mike und Jenny Westaway, hatten lange gerätselt, von wem sie diese Gabe geerbt haben mochte. Zuweilen konnte so ein Elefantengedächtnis aber auch lästig sein, weil ihr Auseinandersetzungen und böse Anspielungen noch lange im Kopf herumspukten, wie beispielsweise die dauernden Spitzfindigkeiten von Harriet Meares. Hatte sie damit ein Problem? War sie etwa eifersüchtig, oder, schoss es ihr blitzartig durch den Kopf, fing Tony schon an zu klammern? Sie schüttelte den Kopf und giggelte leise. Der Gedanke war absurd. Nur wegen der alten Männerhasserin Harriet? Bestimmt nicht!
Tony zahlte, und sie schlenderten zu seinem Wagen. Er fuhr sie nach Hause zum Centennial Park, wo ihre Mutter ihn überredete, zum Abendessen zu bleiben. Bevor er ging, beschwatzte Linda ihn so lange, bis er leise grummelnd einwilligte, sie am kommenden Samstag zu Samanthas Verlobungsparty zu begleiten.
Am späteren Abend, als Jenny Westaway schlafen gehen wollte, klopfte sie auf dem Weg nach oben an Lindas Zimmertür und rief: »Stell die Musik ein bisschen leiser, bitte, Liebes, ja?«
»Okay, Mum«, lautete die muffelige Antwort.
Jenny seufzte resigniert. Das Rockmusical Hair dröhnte unverändert laut durch die massive Holztür und verfolgte
sie durch den Flur zu ihrem Schlafzimmer. Bei dieser Beschallung wären die meisten aus Lindas Generation mit vierzig bestimmt stocktaub, überlegte sie kopfschüttelnd. Mike schlief schon – er arbeitete derzeit an einem gigantischen Bauprojekt in der Innenstadt und kam abends spät heim. Während sie sich abschminkte und bettfertig machte, dachte sie über Lindas Freund nach.
Tony war ein echt netter Junge – pardon: ein echt netter junger Mann. Mit Anzug und Krawatte hatte er richtig seriös und erwachsen ausgesehen. Sie kannte ihn bislang bloß in abgewetzten Jeans, Rollkragenpullis oder T-Shirts, Lederjacke und total ausgelatschten Boots oder Turnschuhen. Insgeheim amüsierte sie sich darüber, dass die Mehrzahl der Studenten in diesem Einheitslook herumlief, obwohl sie andererseits groß tönten, dass sie jede Form von Konformismus oder Gruppenzwang verabscheuten.
Schade, dass er für ein Jahr nach Italien gehen würde, dachte sie, während sie mit den Fingerspitzen einen Tupfer Feuchtigkeitscreme auf ihrer Stirn verrieb. Sie fand, dass Tony und Linda ein schönes Paar abgaben. Aber, und jetzt kam das ganz große Aber: Ihre flatterhafte, lebenshungrige jüngste Tochter sah das vermutlich nicht so. Linda war schon als Kind anders als ihre Geschwister gewesen: Anfangs war sie begeistert vom Ballett gewesen, dann hatte sie Tennis- und Klavierunterricht genommen, die Musikstunden jedoch nach einem Jahr gelangweilt hingeworfen, und das, nachdem sie ein sündhaft teures Klavier angeschafft hatten. Danach wollte sie plötzlich Gitarre spielen! Sie lernte zu leicht, beteuerte Mike, und verlor deshalb schnell das Interesse an einer Sache. Linda war nicht wirklich
oberflächlich. Sie besaß durchaus Verantwortungsbewusstsein, gepaart mit einem gewissen Zweckoptimismus, aber so waren die jungen Leute nun einmal. Linda repräsentierte eben die »neue« Generation, wie Journalisten sie gern umschrieben.
Ihre Mutter legte seufzend die Haarbürste auf den Toilettentisch. Bisweilen wünschte sie sich, sie und Mike wären strenger mit ihrer kapriziösen Tochter gewesen. Und was hätte das geändert? Nichts. Linda hatte nämlich schon sehr früh eine eigene Persönlichkeit entwickelt. Sobald sie als Kleinkind sitzen konnte, hatte sie sich nicht mehr füttern lassen, sondern selbst den Löffel halten wollen, und als sie zu laufen anfing, hatte sie ihren kleinen Dickkopf durchgesetzt, sich ohne fremde Hilfe anzuziehen. Lange vor der Pubertät und dem Erwachsenwerden hatte sie ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt, sich abgenabelt. Eigentlich konnte Jenny sich nicht beklagen. Im Gegenteil, sie war stolz, dass ihre Tochter in
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