Der goldene Greif
sechseckigen Grundriß ve r wandelt worden, doch verliefen die Wände nicht gerade, sondern verjüngten sich nach oben zu einer weiten Kuppel, in deren Mitte sie in spitzem Winkel zusammenliefen. Auch hier w a ren die Wände mit farbenprächtigen Bildern und Ornamenten geschmückt, in die Gold- und Silberplatten und große, glitzernde Edelsteine eingearbeitet waren. Den Boden bedec k te ein köstliches Mosaik aus Jade und Mondsteinen.
All diese Kostbarkeiten verschlugen Raigo fast die Sprache, doch das größte Kleinod befand sich im Schnittpunkt der Ecklinien in der Mitte der Kuppel. Dort war ein mehr als männe r faustgroßer Diamant eingelassen, dessen fremdartiger Schliff den Schein von an fünf Wä n den befestigter Lampen einfing. In seinem Inneren bündelte sich das Licht und wurde, durch die Vielzahl seiner Facetten verstärkt, auf eine Stelle vor der sechsten, der Kopfwand, gele i tet. Das Licht fiel auf einen Marmors o ckel, der jedoch zu Raigos Verwunderung leer war. Er hatte erwartet, das dort eine Statue des Gottes stünde oder der Sitz des Priesters, der das Orakel verkündete.
Fragend sah Raigo Leadir an. Dieser bedeutete Raigo jedoch nur, in der Mitte des Heili g tums stehenzubleiben und mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf zu warten. Raigo tat wie ihm geheißen, und er hörte, wie sich die Schritte Leadirs en t fernten. Eine der in die Wände eingelassenen Türen schloß sich. Dann war es still.
Raigo wartete. Gern hätte er die Augen geöffnet, doch die ehrfürchtige Scheu, die ihm das Heiligtums Mynthars einflößte, hinderte ihn daran, der Weisung zuwide r zuhandeln.
Plötzlich glaubte er jedoch, fast körperlich die Nähe eines lebenden Wesens zu spüren, fremd und erhaben - und doch irgendwie vertraut. Und dann drang eine Stimme in sein Inn e res:
,Öffne die Augen und tritt näher, Menschenwesen!’
Raigo schaute auf, und fast hätte sich ein Freudenschrei von seinen Lippen gelöst. Auf dem eben noch leeren Sockel, der fast zu klein war für seine mächtige Gestalt, saß - Phägor!
Doch der Schrei erstarb auf Raigos Zunge, denn Phägor wirkte fremd - unnahbar und sel t sam abwesend - und Raigo hatte das Gefühl, daß der Greif ihn weder erkannte, noch übe r haupt zu sehen schien. Der sonst so lebhafte Blick der goldenen Augen war starr und in we i te Fe r nen gerichtet.
So trat Raigo schweigend näher, bis er nur noch wenige Schritte von Phägor en t fernt stand.
,Du hast die Prüfungen bestanden, die Mynthar vor die Befragung des Orakels stellt’, e r klang Phägors Stimme nun wieder. , So höre nun, was es dir verkündet. Wisse denn, daß Mynthar dich für eine besondere Aufgabe ausersehen hat. Gelingt es dir, diese Aufgabe zu lösen, wird dir der Gott zur Belohnung deine Wünsche e r füllen und du kannst als Herrscher in deine Heimat zurückkehren. So höre denn deine Aufgabe:
Vor langer Zeit stand auf diesem Sockel die goldene Statue eines Greifen, durch deren Mund der Gott die Zukunft zu verkünden pflegte. In jenen Tagen war das Orakel noch jedem z u gänglich, der den weiten Weg zu ihm nicht scheute. Eines Tages jedoch kamen hoch aus dem Norden drei der barbarischen Cygonen und baten um die Erlaubnis, die Grotte aufs u chen zu dürfen. Natürlich gewährte man i h nen die Bitte, zumal einer von ihnen ihr Herrscher Calimar war, der Vorfahr von Eja, die heute Königin von Cygon ist. Calimar gab vor, das Orakel wegen einer schweren Seuche befragen zu wollen, die sein Volk seit einiger Zeit heimsuchte. So zeigte man ihnen den Aufstieg zum Thron der Götter, und sie machten sich auf den Weg. Als die drei am Abend nicht zurückkehrten, nahm man an, die hätten sich nicht getraut, vor dem nächsten Morgen den Abstieg zu wagen, da die Dunkelheit hier früh hereinbricht. Doch als auch am nächsten Tag keiner von ihnen zurüc k kam, schickte man einige Leute aus, die nach ihrem Verbleib forschen sollten. Wer beschreibt das Entsetzen der Wyranen, als sie den Priester erschlagen und das Heiligtum beraubt fanden! Die Cyg o nen hatten den goldenen Greif gestohlen! Zwar verfolgte man die frechen Räuber, doch ihr Vorsprung war zu groß. Das wichtigste Stück des Heiligtums, der Mund Mynthars, war verl o ren!
Seit dieser Zeit ersetzen wir Greife die geraubte Statue, und niemand kann mehr ungeprüft vor das Orakel treten, damit das Heiligtum nicht mehr entweiht werden kann. Nur wer die schweren Prüfungen auf sich nimmt, um der Wahrheit willen, wird reinen
Weitere Kostenlose Bücher