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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Anbetung marschierte Mathew wie ein Titan, umnebelt von Pistolenrauch und Ruhm.
    Joe fragt sich dann und wann, wo sich die Waffe heute befindet. Jahrelang lag sie in ihrer Schatulle in Mathews Arbeitszimmer, und dem Sohn des Hauses Spork war es nicht erlaubt, sie anzurühren. Er stand nur da und schaute mit großen Augen dabei zu, wie Mathew sie reinigte und manchmal Kugeln für sie anfertigte. Aber diese Waffe war nicht zum Spielen gedacht, niemals, nicht mal an Fest- oder Geburtstagen.
    Eines Tages werde ich dir zeigen, wie man richtig mit ihr umgeht, mein Sohn. Aber nicht heute.
    Und auch später nie, wie sich herausstellen sollte. Vielleicht wartet die Waffe irgendwo da unten.
    London ist alt, und jede Generation hat den Geheimnissen der Stadt neue hinzugefügt.
    Die Tür klemmt, und er muss ihr einen Tritt versetzen. Dreck und noch mehr Muscheln, und ein Rascheln ertönt, als irgendetwas Lebendiges davonflitzt. Ein Zeichen dafür, dass der Fluss sauberer wird: Sauerstoff, eine Prise Salz und reichlich Bakterien. Die Tür wird künftig noch schneller rosten, er muss also noch einmal wiederkommen und sie austauschen. Er könnte allerdings auch der Themse alles überlassen und dabei zuschauen, wie die Überbleibsel seiner Vergangenheit Richtung Holland in See stechen, und anschließend etwas erleichterter durch die Straßen laufen. Um einiges ärmer, aber erleichterter.
    Eine aufziehbare Taschenlampe hängt an einem Haken in Schulterhöhe. Es amüsiert ihn, dass Taschenlampen mit Kurbelgriff heutzutage ein derartiger Renner sind. Diese hat er unter Daniels Anleitung angefertigt, als er neun Jahre alt war. Sie haben sogar gemeinsam eine Glühbirne geblasen, einen Glasballon mit Glühfaden, gefüllt mit Edelgas. Sie explodierte beinahe sofort und musste gegen eine Glühbirne aus dem Laden ersetzt werden.
    Das weiße Lampenlicht offenbart ein Chaos aus Plunder: eine Porzellankuh, eine rot-schwarze Melassedose, randvoll mit verrottenden Gummibändern, wie Joe weiß; eine beängstigende Marionette, der sämtliche Fäden durchschnitten wurden. Und dort, gegenüber auf einem Regal, steht aufrecht ein strenger Lederkoffer in einem durchsichtigen Plastiksack, um ihn vor der Feuchtigkeit zu schützen: Daniels Plattensammlung.
    Er nimmt den Koffer herunter und zieht, aus Gründen, die ihm selbst nicht klar sind, eine zufällig ausgewählte Platte heraus und schiebt den Rest der Sammlung zurück ins Regal. Dann holt er zwei Gegenstände aus seinen Taschen – beides kürzlich erworbene Dinge – und legt sie neben dem Schallplattenkoffer ab.
    Das ist totale Paranoia. Als würde man unter seinem Auto nach Bomben suchen, nur weil man ein Stück Draht auf dem Asphalt gesehen hat.
    Die Schallplatte trägt er, verborgen unter seinem Mantel, ins Lagerhaus zurück.
    Das Grammophon ist ein klassisches Stück: Der Trichter besteht aus kräftigem braunen Mahagoni und der Korpus aus intarsiertem Eichenholz, der Plattenteller ist mit Filz bedeckt und in Silber eingefasst. Sogar die Kurbel ist wunderhübsch. Joe hat Monate gebraucht, um das Grammophon zu reparieren. Der frühere Besitzer hatte es auf einem Dachboden voller Fledermäuse aufbewahrt.
    Er dreht die Kurbel langsam, denn selbst in Extremsituationen und bei großer Aufregung gehört es sich nicht, eine Dame zu hetzen. Die Nadel ist alt, also setzt er eine neue ein. Dann macht er sich eine Tasse Tee und liest sich den Text auf dem Plattencover durch. Slim Gaillard. Joe hat von Slim Gaillard gehört. Der große Slim mit den Spinnenfingern, der bei jedem Auftritt eine Flasche Whiskey trank, die ganze Nacht über rauchte und mit umgedrehten Händen Klavier spielen konnte. Wohlgemerkt nicht mit überkreuzten Händen, während er auf dem Pianohocker lag, sondern tatsächlich invertiert: Er spielte mit den Knöcheln.
    Joe legt die Platte auf den Teller und setzt die Nadel darauf ab.
    Nun, das ist nicht Slim Gaillard. So viel ist klar.
    Eine Frauenstimme, sanft und alt und voller Gefühl. Das ist keine Engländerin. Französin? Oder etwas Exotischeres? Er ist sich nicht sicher.
    »Es tut mir so leid, Daniel.«
    Ein Kübel Eiswasser, der sich über seinen Kopf und seinen Nacken ergießt. Die Haare auf seinen Armen stellen sich auf wie schuldbewusst aus dem Schlaf geschreckte Nachtwächter. Unmöglich, unmöglich. Die Stimme einer Toten. Der Toten. Der ganz eigene Geist des Hauses Spork spricht zu ihm. Er muss es sein. Wer sonst würde sich bei Daniel Spork über eine phonographische

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