Der goldene Schwarm - Roman
zwei Adressen und einige Haustürschlüssel, die so beschriftet wurden, als würden sie einem Dritten gehören.
Der Schwung, überlegt Joe, ist das Entscheidende. Er muss in Bewegung bleiben und darf die Energie nicht verlieren. Selbst ein sehr kleines Objekt kann, wenn es in der richtigen Geschwindigkeit unterwegs ist, einen gewaltigen Einschlag verursachen.
Er schaut zu Polly Cradle hinüber. »Du musst das nicht tun.«
Sie weist ihn zurecht. »Im Gegenteil. Dies ist etwas, das du nicht tun musst.«
Er starrt sie an. Polly hebt eine Augenbraue und fährt fort. »Ich würde so weit gehen zu sagen, dass du es auch gar nicht könntest. Gott weiß, was in dir zum Vorschein kommen würde. Ich mag dich verrückt, Spork. Aber ich möchte nicht, dass du den Punkt der Katatonie erreichst.«
»Aber …«
»Das hier erledige ich, Joe. Du bleibst im Hintergrund und schaust zu. Davon abgesehen: Es ist an der Zeit, dass du mich mal bei der Arbeit erlebst.« Sie runzelt die Stirn. »Auch wenn ich hierfür, wie mir scheint, zusätzliche Unterstützung brauche. Nein«, fügt sie hinzu, als er unverzüglich den Mund öffnet, um sich freiwillig zu melden, »nicht die Art von Unterstützung. Es geht um gütliches Zureden.«
»Zureden.«
»Ich bin eine Ermittlerin, Joe Spork. Zureden gehört zu meinen Aufgaben. Und nun: Sieh zu.«
Er sieht zu.
Polly Cradle spielt auf Jorges nicht ortbarem Handy wie auf einer Pikkoloflöte. Sie ist charmant und glaubwürdig und dann auch wieder sehr hilfsbedürftig. Joe erinnert sich daran, wie Mathew immer gesagt hat, man könne ein Haus ruhig am helllichten Tag ausrauben, solange ein hübsches Mädchen im Ballkleid die Leiter hält. Alte Damen werden einem die Ritterlichkeit hoch anrechnen und Streifenpolizisten Hilfe anbieten. Polly hat eine sonnige, hoffnungsvolle Art an sich und eine zarte Ausstrahlung, die die Menschen dazu bringt, ihr weiterhelfen zu wollen. Sie setzt Organisationsstrukturen gegen sich selbst in Gang, schiebt sich gewandt in die Lücken zwischen Telefonzentralen und Fachabteilungen und taucht mit all ihren Geheimnissen wieder auf.
Über den gelangweilten Empfangsmitarbeiter in der Residenz des Erzbischofs von Canterbury erhält sie Zugang zu einem alten Kleriker in Salisbury, der sich um die Unterbringung von schutzbedürftigen Zeugen in Kirchenrechtsprozessen kümmert. Vor Kurzem ist dieser gefragt worden, ob er einen sicheren Aufenthaltsort für eine ältere Frau auftreiben könne, die von unfreundlichen Zeitgenossen gesucht wird. Polly weigert sich mit Nachdruck, sich darüber genauere Informationen geben zu lassen, rügt ihn sogar in höflicher Weise dafür, dies überhaupt erwähnt zu haben, woraufhin er sich in ihrer Diskretion geradezu sonnt. Einen Augenblick später spricht sie mit seinem Assistenten über eine vollkommen andere Angelegenheit, verschafft sich dabei aber irgendwie den Namen eines Laienmitarbeiters, der gerade frisch aus Afghanistan zurückgekehrt ist, seine Sünden wiedergutzumachen versucht und kürzlich damit beauftragt wurde, eine alte Dame zu beschützen. Durch einen kurzen Anruf bei einem alten Freund bei der Greater London Authority erfährt sie die Privatnummer des Mannes. Dessen Ehefrau wiederum ist höchst erfreut zu erfahren, dass ihrem Mann für seine Dienste eine bedeutende Auszeichnung zuteilwerden soll, wofür er aber umgehend kontaktiert werden müsste, was ihr Sorgen bereitet, da er sich zurzeit aus beruflichen Gründen in Royston aufhält und nicht erreichbar ist.
Dies führt schließlich zu einem Soldatenpub namens Cross Keys, der auch Zimmer vermietet und sich auf der gegenüberliegenden Seite der Straße befindet, in der Harriet Spork in einer von der Kirche angemieteten Wohnung untergebracht wurde und wo sie von den Laienbrüdern Sergeant Boyle und Corporal Jones bewacht wird, die ehemals dem Special Air Service Ihrer Majestät angehörten und sich inzwischen im Ruhestand befinden. Da sie Harriets Schutz dienen und Polly Cradle außerdem nicht in Sergeant Boyles Gewichtsklasse kämpft, greift sie für das Verschaffen des Zutritts lediglich aufs Anklopfen zurück.
»Mrs Harriet Spork?«, sagt Polly Cradle.
»Schwester«, wendet Harriet vage ein.
»Ich bin Mary Angelica Cradle. Wir haben mal gemeinsam Kekse gebacken. Mit Smarties.«
»Oh, ja, meine Liebe. Natürlich.«
»Im Interesse lückenloser Aufklärung möchte ich Ihnen gestehen, dass ich im Verlauf des Backprozesses etwa zwei Drittel der Smarties aufgegessen
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