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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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bei der Zaubersprüche und Beschwörungen irgendeinen symbolischen Aspekt des realen Gegenstandes einbeziehen, auf den sie angeblich wirken sollen. Ein Beispiel mit tragischen Folgen ist der Glaube, Nashornpulver wirke als Aphrodisiakum. Diese schicksalsschwere Legende geht auf die angebliche Ähnlichkeit des Horns mit einem erigierten Penis zurück. Dass die »homöopathische Magie« so weit verbreitet ist, lässt darauf schließen, dass es sich bei dem Unsinn, der ein anfälliges Gehirn infiziert, nicht ausschließlich um zufälligen, beliebigen Unsinn handelt.
    Man ist leicht versucht, die biologische Analogie noch weiter zu treiben und zu fragen, ob auch hier etwas Ähnliches wie die natürliche Selektion am Werk ist. Verbreiten manche Ideen sich leichter als andere, weil sie innere Reize oder Vorzüge haben oder weil sie sich besser mit vorhandenen psychologischen Voraussetzungen vertragen? Lassen sich Wesen und Eigenschaften der Religion, wie wir sie beobachten, damit auf ähnliche Weise erklären wie die Entstehung der Lebewesen, die wir mit natürlicher Selektion begründen? Wichtig ist hier der Hinweis, dass mit »Vorzüge« nur die Fähigkeit zum Überleben und zur Verbreitung gemeint ist. Es bedeutet nicht, dass der betreffende Gedanke ein positives Werturteil verdient hätte und etwas wäre, worauf wir aus menschlicher Sicht stolz sein können.
    Selbst in einem evolutionsorientierten Modell muss es nicht unbedingt eine natürliche Selektion geben. Biologen wissen, dass ein Gen sich in einer Population nicht nur dann ausbreiten kann, wenn es ein gutes Gen ist, sondern auch wenn es einfach Glück hat. So etwas bezeichnet man als Gendrift. Welche Bedeutung sie als Gegenstück zur natürlichen Selektion hat, war umstritten. Heute ist sie aber in Form der sogenannten neutralen Theorie der Molekulargenetik allgemein anerkannt. Wenn ein Gen mutiert, sodass verschiedene Formen mit gleicher Wirkung entstehen, sind die Unterschiede neutral und die natürliche Selektion kann keine Version gegenüber einer anderen begünstigen. Dennoch kann die neue Mutante durch das, was die Statistiker als Stichprobenfehler bezeichnen, im Laufe der Generationen die frühere Form im Genpool verdrängen. Dies ist auf molekularer Ebene ein echter entwicklungsgeschichtlicher Wandel (auch wenn wir am vollständigen Lebewesen keine Veränderung erkennen). Die Evolution hat zu einer neutralen Veränderung geführt, die nicht im Mindesten der natürlichen Selektion zu verdanken ist.
    In der Kultur gibt es als Gegenstück zur Gendrift eine allgegenwärtige Möglichkeit, die wir nicht außer Acht lassen können, wenn wir uns mit der Evolution der Religion befassen. Die Sprache entwickelt sich auf quasi-biologische Weise weiter, und ihre Evolution scheint genau wie die zufällige Gendrift keiner festgelegten Richtung zu folgen. Sie wird in einer kulturellen Entsprechung zur Genetik weitergegeben und ist über die Jahrhunderte einem allmählichen Wandel unterworfen, bis schließlich verschiedene Abstammungslinien entstanden sind, deren Vertreter sich gegenseitig nicht mehr verstehen. Möglicherweise wird auch die Evolution der Sprache von einer Art natürlicher Selektion gelenkt, aber die Argumente, die dafür sprechen, erscheinen nicht sonderlich überzeugend. Wie ich noch genauer erläutern werde, wurden solche Mechanismen für wichtige Schritte der Sprachentwicklung postuliert, beispielsweise für die große Vokalverschiebung, die zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert im Englischen stattfand. Aber das meiste, was wir beobachten, können wir auch ohne solche funktionsorientierten Hypothesen erklären. Es erscheint durchaus plausibel, dass Sprache sich normalerweise durch eine kulturelle Entsprechung zur zufälligen Gendrift weiterentwickelt. In verschiedenen Regionen Europas veränderte sich das Lateinische auf unterschiedliche Weise und wurde zu Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Französisch, Rätoromanisch und den verschiedenen Dialekten dieser Sprachen. Dass sich in solchen unterschiedlichen Entwicklungen regionale Vorteile oder eine Art »Selektionsdruck« widerspiegeln sollen, liegt, vorsichtig ausgedrückt, nicht gerade auf der Hand.
    Nach meiner Vermutung machen Religionen wie Sprachen eine derart zufällige Evolution durch, und auch die Ausgangspunkte sind so willkürlich, dass die verblüffende – und manchmal gefährliche – Vielfalt entsteht, die wir heute tatsächlich beobachten. Gleichzeitig ist es durchaus vorstellbar,

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