Der Graf von Monte Christo 2
dem Rasen stehenden Tisch.
»Wirklich, Herr Graf«, sagte Frau Danglars, »ich schäme mich, meine Schwäche zu gestehen, aber diese schrecklichen Geschichten haben mich sehr erschüttert; lassen Sie mich, bitte, niedersitzen.«
Und sie sank auf einen Stuhl. Monte Christo machte ihr eine Verbeugung und trat an Frau von Villefort heran.
»Ich glaube, Frau Danglars braucht wieder Ihr Flakon«, sagte er.
Aber ehe Frau von Villefort sich ihrer Freundin genähert hatte, hatte der Staatsanwalt der Frau Danglars zugefl üstert: »Ich muß Sie sprechen.«
»Wann?«
»Morgen.«
»Wo?«
»In meinem Arbeitszimmer im Gericht, das ist noch der sicherste Ort.«
»Ich werde kommen.«
In diesem Augenblick näherte sich ihnen Frau von Villefort.
»Danke, liebe Freundin«, sagte Frau Danglars, indem sie zu lächeln versuchte, »es ist nichts mehr, ich fühle mich besser.«
D B
Die Gäste des Grafen hatten sich verabschiedet. Vor dem Torweg wartete der Diener des Grafen Andrea Cavalcanti mit dem Tilbury seines Herrn. Der Graf trat an ihn heran und schalt ihn, daß er ihn nicht an der Freitreppe erwartet und ihn so gezwungen hatte, drei-
ßig Schritte unnütz zu machen.
Der Diener ließ den Zorn seines Herrn demütig über sich ergehen, hielt mit der linken Hand das ungeduldig stampfende Pferd und reichte mit der rechten die Zügel seinem Herrn, der sie nahm und seinen Lackstiefel auf den Tritt setzte.
In diesem Augenblick legte sich eine Hand auf seine Schulter.
Der junge Mann sah sich um; er glaubte, daß Danglars, mit dem er sich größtenteils unterhalten hatte, oder Monte Christo ihm noch etwas zu sagen hätten. Aber er bemerkte ein fremdes sonnenver-branntes Gesicht mit langem Bart, funkelnden Augen und spöttischem Lächeln um einen Mund, der zwei weiße, scharfe, fehlerlose Zahnreihen sehen ließ.
Die schmutziggrauen Haare des Fremden waren mit einem rot-karierten Taschentuch bedeckt; ein schmutziger, zerrissener Kittel hing um den mageren, knochigen Körper. Die Hand, die auf der Schulter des jungen Mannes lag und das erste war, was dieser von dem Menschen sah, erschien ihm riesengroß. Erkannte der Graf beim Schein der Laterne seines Tilbury dieses Gesicht, oder war er nur über das gräßliche Aussehen des Menschen, der ihn anhielt, betroff en? Er fuhr zusammen und wich zurück.
»Was wollen Sie von mir?« fragte er.
»Verzeihen Sie, Nachbar«, antwortete der Mann, indem er die Hand an sein rotes Tuch legte, »ich störe vielleicht, aber ich habe mit Ihnen zu sprechen.«
»Man bettelt abends nicht«, sagte der Diener, indem er den Zudringlichen durch eine Bewegung fortzuweisen suchte.
»Ich bettle nicht, mein hübsches Bürschchen«, antwortete der Unbekannte mit spöttischem Lächeln, das aber etwas so Schrecken-einfl ößendes hatte, daß der Diener zurücktrat. »Ich will nur zwei Worte mit Ihrem Meister reden, der mir vor etwa vierzehn Tagen einen Auftrag gegeben hat.«
»Nun«, sagte Andrea, der sich bemühte, vor seinem Bedienten die Unruhe zu verbergen, »was wollen Sie von mir? Sagen Sie’s schnell, mein Lieber.«
»Ich wollte … ich wollte …«, sagte leise der Mann mit dem roten Tuch, »daß Sie mir die Mühe ersparten, zu Fuß nach Paris zurückzukehren. Ich bin sehr müde, und da ich nicht so gut gespeist habe wie du, kann ich mich kaum auf den Beinen halten.«
Der junge Mann fuhr bei dieser seltsamen Vertraulichkeit zusammen.
»Sagen Sie endlich, was wollen Sie?«
»Je nun, daß du mich mit deinem schönen Wagen nach Hause fährst.«
Andrea erblaßte, antwortete aber nicht.
»Lieber Gott, ja«, fuhr der Unbekannte fort, indem er die Hände in den Taschen vergrub und den jungen Mann herausfordernd ansah, »das ist so eine Idee von mir; verstehst du, mein kleiner Benedetto?«
Bei diesem Namen schien der junge Mann andern Sinnes zu werden, denn er trat an den Diener heran und sagte zu ihm: »Ich habe diesen Mann in der Tat mit etwas beauftragt, worüber er mir Rechenschaft abzulegen hat. Geh zu Fuß bis an die Barriere; dort nimm eine Droschke, damit du nicht zu spät nach Hause kommst.«
Verwundert entfernte sich der Bediente.
»Wir wollen wenigstens in den Schatten treten«, sagte Andrea.
»Oh, was das betriff t, werde ich dich selbst an eine schöne Stelle führen; warte«, entgegnete der Mann mit dem roten Tuch, nahm das Pferd am Gebiß und führte den Tilbury an eine Stelle, wo es niemand möglich war, Zeuge der Ehre zu sein, die ihm Andrea widerfahren
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