Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
hundert zu optimistisch, und ich zählte nur noch bis fünfzig, dann bis fünfundzwanzig, dann bis zehn.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn.
Ich blieb stehen, beugte mich vor und stützte die Hände auf die Knie, um meinen Rücken eine Weile zu entlasten. Schweiß tropfte aus meinem Gesicht auf die fahle Erde wie Tränen.
Das Modoc Plateau war anders als die Mojave-Wüste, aber ich fühlte mich nicht anders. Beide waren reich an gezackten Wüstenpflanzen, aber auch unwirtlich und menschenfeindlich. Kleine graue und braune Eidechsen huschten über den Pfad, wenn ich näher kam, oder verharrten auf ihrem Platz, wenn ich vorüberging. Wo bekamen sie Wasser her?, fragte ich mich und versuchte, nicht ständig daran zu denken, wie heiß es war und wie großen Durst ich hatte. Nach meiner Schätzung waren es noch knapp fünf Kilometer bis zu dem Wassertank. Ich hatte noch einen Viertelliter Wasser.
Dann noch vier Schlucke.
Noch drei Schlucke.
Ich zwang mich, die letzten beiden Schlucke nicht zu trinken, bis der Wassertank in Sicht kam, und um halb fünf war es so weit: die Stelzenbeine des verbrannten Feuerwachturms auf einer Erhebung in der Ferne. Daneben ein Metalltank an einem Pfosten. Kaum hatte ich ihn entdeckt, griff ich zur Flasche und trank den letzten Rest Wasser, froh, dass ich in ein paar Minuten am Tank meinen Durst würde löschen können. Im Näherkommen sah ich, dass an dem Holzpfosten neben dem Tank etwas Weißes im Wind flatterte. Mehrere Stofffetzen, dachte ich zuerst, dann ein zerrissenes Tuch. Erst aus nächster Nähe erkannte ich, dass es kleine Zettel waren, die mit Klebeband an dem Pfosten befestigt waren und sich im Wind bewegten. Ich taumelte näher, um sie zu lesen, aber noch bevor ich bei ihnen war, wusste ich, was darauf stand. Auf allen stand etwas anderes, aber die Botschaft war immer dieselbe: KEIN WASSER.
Einen Moment lang stand ich reglos da, wie gelähmt vor Schreck. Ich spähte in den Tank, um mich davon zu vergewissern, dass es stimmte. Da war kein Wasser. Ich hatte kein Wasser. Nicht einen Schluck.
Kein Wasser, kein Wasser, kein Wasser.
Ich trat gegen die Erde, rupfte büschelweise Salbei aus und warf ihn fort, wütend auf mich selbst, weil ich schon wieder das Falsche getan hatte und noch dieselbe blöde Gans war wie an meinem ersten Tag auf dem Trail. Dieselbe, die Stiefel in der falschen Größe gekauft und vollkommen unterschätzt hatte, wie viel Geld sie im Sommer brauchen würde, und vielleicht sogar dieselbe, die sich eingebildet hatte, sie könnte auf diesem Trail wandern.
Ich zog die Seiten, die ich aus dem Wanderführer herausgerissen hatte, aus der Hosentasche und las sie mir noch einmal durch. Ich hatte Angst, aber anders als am Vormittag, als ich das komische Gefühl gehabt hatte, dass etwas in der Nähe lauerte. Jetzt hatte ich richtig Angst. Und ich hatte allen Grund dazu: Ich war bei Temperaturen um vierzig Grad kilometerweit von Wasser entfernt. Dies war die ernsteste Lage, in die ich bis dahin auf dem Trail geraten war, bedrohlicher noch als der frei laufende Bulle, beängstigender als der Schnee. Ich brauchte Wasser. Ich brauchte es bald. Ich brauchte es jetzt. Ich spürte es mit jeder Faser meines Körpers. Ich musste daran denken, wie Albert mich bei unserer ersten Begegnung gefragt hatte, wie oft ich am Tag urinierte. Seit ich am Morgen in Old Station aufgebrochen war, hatte ich kein einziges Mal gepinkelt. Ich hatte nicht gemusst. Jeder Schluck, den ich zu mir genommen hatte, war verbraucht worden. Ich war so durstig, dass ich nicht einmal spucken konnte.
Nach Auskunft der Autoren von The Pacific Crest Trail, Volume I: California waren es bis zur nächsten »verlässlichen« Wasseraufnahmestelle am Rock Spring Creek vierzehn Kilometer. Zwar erwähnten sie, dass es auch in einem näher gelegenen Stauweiher Wasser gebe, doch rieten sie von dessen Genuss dringend ab, da seine Qualität »bestenfalls fragwürdig« sei. Bis zu diesem Wasser waren es knapp acht Kilometer auf dem Trail.
Es sei denn natürlich, auch der Stauweiher war ausgetrocknet.
Damit war zu rechnen, wie ich zugeben musste, als ich mich so schnell, wie es der Zustand meiner Füße und der schwere Rucksack zuließen, dorthin aufmachte. Der Pfad führte am Ostrand der Hochfläche entlang, und ich hatte das Gefühl, über die ganze Welt zu blicken. Ein weites Tal erstreckte sich unter mir bis in die Ferne, im Norden wie im Süden unterbrochen von grünen
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