Der Gute Ton 1950
ODER ABENDESSEN?
Ladet man zum Mittag- oder zum Abendessen ein? In beinahe allen
Fällen empfiehlt es sich, das Abendessen vorzuziehen. Man hat wohl
vielleicht nicht immer die Wahl, denn einen Freund, der im
Laufe des Nachmittags verreisen muss, kann man nicht zum
Abendessen bitten. Einladungen zum Mittagessen missglücken meist.
Die Vorbereitungen sind ungefähr die gleichen wie für ein
Abendessen, obwohl das Menü nicht dasselbe ist. Aber die Zeit des
Beisammenseins ist begrenzt; der Gedanke an den Dienst und der
Verzicht auf das Mittagsschläfchen verderben das Vergnügen.
Man soll mittags nicht die Kostbarkeiten seines Kellers anbieten, Ihre
Gäste werden nachmittags vermutlich noch klar denken müssen und
dürfen nicht den Eindruck erwecken »soweit« zu sein, wie um 4 Uhr
morgens vielleicht. Gleichgültig, was Sie mit Ihren Gästen
zusammenführt — seien es geschäftliche Interessen oder nur die
Freude einer gemeinsamen Aussprache, am Beisammensein — ein
langer Abend ist immer günstiger.
DIE WAHL DER GÄSTE.
Es schickt sich nicht, zwei verfeindete Menschen einander
gegenüberzusetzen. Ihre Gäste sollen wissen, wen sie bei Ihnen treffen
werden. Vermeiden Sie auch, dass 13 Gäste zu Tisch sind; wir sprechen
noch ausführlich über den Aberglauben und wie man ihm begegnet.
Bitten Sie möglichst die gleiche Anzahl Herren wie Damen. Es ist gut,
wenn Menschen, die etwa zwei Stunden nebeneinander sitzen, sich
nicht irgendwann einmal Blutrache geschworen haben, sondern
einander sympathisch, wenn nicht schon befreundet sind. Ein Gast, der
bei Annahme einer Einladung weiss, dass er Menschen trifft, die er
nicht sehen mag, soll sich nachträglich jeder Empörung enthalten und
nicht den Erstaunten spielen, weil nicht alle von seinen Feindschaften
unterrichtet sind. Er lehnt in einem solchen Fall die Einladung mit
irgendeiner Entschuldigung ab, soll aber den richtigen Grund nur
dann sagen, wenn die Gastgeber nahe Freunde sind. Aber
auch bei Freunden kann Diskretion nie schaden! Sprechen Sie nicht vor
Ihren Gästen von denen, die nicht kommen wollten; sie könnten
dadurch zufällig erfahren, wer sie meidet.
DIE WAHL DES MENÜS.
Das aufgestellte Menü soll nicht Ihnen, sondern Ihren Gästen
gefallen. Sie müssen daher Rücksicht auf deren Geschmack und ihre
Sitten nehmen. Ein überzeugter Katholik isst an einem Freitag oder
Fasttag, wie Aschermittwoch, Gründonnerstag oder Karfreitag kein
Fleisch. Einem Israeliten setzt man kein Schweinefleisch vor. Eine
kluge Hausfrau unterrichtet sich geschickt über die Religion ihrer
Gäste. Sie prahlt aber nicht mit ihrer »weisen Voraussicht«. Wird einem
Gast an einem Fasttag Fleisch angeboten, hat er das Recht abzulehnen,
ohne dass darüber gesprochen wird.
Ist jemand so taktlos, darüber zu sprechen, kann man ruhig den
Grund der Ablehnung erklären. Dann müssen sich die Gastgeber
entschuldigen, dass sie sich nicht vorher unterrichteten. Das Klügste
ist, an einem Freitag grundsätzlich keine Fleischgerichte anzubieten,
oder noch besser ist es, an diesem Tag garnicht einzuladen. Die
Vorliebe oder Abneigung Ihrer Gäste ist für Sie sehr wichtig. Fragen
Sie aber Ihre Gäste nicht selbst, was sie gerne essen, es sei denn, dass es
intime Freunde sind. Sie sollen ja Ihren Gästen die Sorge der
Zusammenstellung des Menüs ersparen, und sie überraschen. Aber
geben Sie acht, dass sie nicht unangenehm überrascht werden.
Eine weitere Aufmerksamkeit seinen Gästen gegenüber ist, solche
Gerichte zu vermeiden, die man nur bei besonderen »theoretischen«
Kenntnissen und grosser Uebung richtig essen kann. Sie ersparen
damit vermutlich einigen Ihrer Gäste die Mühe die Esstechnik erst bei
den anderen abgucken zu müssen. Vergällen Sie nicht das Vergnügen
eines guten Essens, indem Sie bei Ihren Gästen einen
Minderwertigkeitskomplex hervorrufen, weil sie sich einem Gericht
gegenübersehen, das sie zum ersten Male in ihrem Leben essen.
Reichen Sie auch nicht unbedingt die Spezialitäten Ihrer Gegend, falls
Ihre Gäste nicht gerade diese Landesgerichte erwarten. Viele
Ausländer bilden sich ein, dass wir nur Sauerkraut essen und Bier
trinken. Sorgen Sie, dass diese schlecht unterrichteten Menschen ihre
zu primitive Ansicht ändern. Wählen Sie ein Menü, das einen gewissen
nationalen Charakter bewahrt, und dabei doch internationale Mägen
befriedigt. Vergessen Sie die Wahrheit nicht, die wir ohne zu
verzweifeln
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