Der Gute Ton 1950
was
er braucht mitzubringen, indes der Gastgeber tut, als habe er einen
Schiffbrüchigen aufgenommen.
Der Gast kann natürlich bei Bedarf die schmerzstillenden Tabletten
nehmen, die auf dem Nachttisch liegen, auch das Wasser in der Karaffe
ist für ihn bestimmt, — wenn er nachts Durst hat. Das unnennbare
Geschirr, das sich im Nachtischchen befindet, wird er allerdings nicht
benützen. Die Gastgeber werden dem Freund, auch wenn er spät
abends ankommt, den Weg zum Badezimmer und die verschiedenen
Lichtschalter zeigen, damit er im Hause umhergehen kann, ohne sich
den Kopf an einer Mauer einzurennen. Sie müssen unbedingt daran
denken, dass der Gast in der Nacht vielleicht hungrig wird, und stellen
aus diesem Grunde eine Schale Obst auf die Kommode. Auch
Zigaretten werden nicht vergessen. Die Schachtel steht, geöffnet, gut
sichtbar, auf dem Tisch. Aber ein wohlerzogener Gast bedient sich
nicht; er hat seine eigenen Zigaretten mitgebracht und raucht nicht auf
Kosten anderer. Man fragt den Gast, was er gerne isst und unterrichtet
sich, was er zum Frühstück nimmt. Es genügt nicht, nach dem Getränk
allein zu fragen. Es gibt Leute, für die das Frühstück das Hauptessen
des Tages ist. Man soll nicht versuchen, ihre Gewohnheiten zu ändern
und sie zu einer Ernährungspolitik zu bekehren, die angeblich
gesünder als die ihre ist. Ein Gastgeber vergisst auch die Unterhaltung
seiner Gäste nicht! Er darf nicht glauben, dass er seine Pflicht erfüllt
hat, wenn er seine Gäste anständig unterbringt und ernährt und
gelegentlich die Wäsche wäscht. Man erklärt ihnen die
Sehenswürdigkeiten und zeigt die lohnenden Ausflüge. Man muss sie
nicht immer begleiten, aber man verlangt auch später keine
Erklärungen. Selbstverständlich stellt man seine Bibliothek zur
Verfügung. Ein Gast soll aber nicht den Eindruck haben, dass seine
Ankunft eine ungewöhnliche Aufregung verursacht. Er würde sich
gehemmt fühlen und vielleicht seinen Aufenthalt abkürzen.
Ein Gast muss sich wie zu Hause fühlen, deshalb erlaubt man ihm,
gelegentlich kleine Hilfsdienste zu leisten. Man wird ihn zwar nicht in
den Keller schicken um Kohlen zu holen, das wäre leicht übertrieben.
Aber er kann z. B. ruhig bei einem Lieferanten einen Auftrag
ausrichten.
DIE PFLICHTEN DES GASTES.
Zunächst einmal kommt der Gast nicht mit leeren Händen an. Er
bringt nicht nur sein persönliches Gepäck mit, sondern er hat
Geschenke für seine Gastgeber vorgesehen. Sie müssen nicht sehr
prächtig sein, — aber grosszügig wie ein Gast sein soll — vergisst er
niemanden im Hause, weder Grosseltern noch Kinder, die meistens
sehr empfindlich für kleine Aufmerksamkeiten sind. Der Gast wählt
die Geschenke so aus, dass sie dem Geschmack der Empfänger
entsprechen — soweit er dies beurteilen kann. Er wird seinen Freunden
bei der Ankunft sagen, wie lange er voraussichtlich bleiben wird, — es
wäre ja möglich, dass die Gastgeber nach ihm andere Gäste erwarten.
Es ist für die Gastgeber sicher sehr schmeichelhaft, wenn man am
Vorabend der Abreise sagt: »Man wohnt wirklich zu gut bei Ihnen, ich
bleibe noch ein paar Tage«, oder »Ich habe es mir überlegt, ich fahre
erst nächste Woche«, aber sie werden diese Aen-derung der Pläne
schwerlich immer schätzen.
Andererseits empfiehlt sich auch kein zu zurückhaltendes Benehmen.
Man soll nicht dauernd fürchten, indiskret zu sein, wohl zieht man sich
sofort zurück, wenn die Gastgeber sich mit Fragen beschäftigen, die sie
allein angehen. Wenn sie eines ihrer Kinder tadeln, enthält sich der
Gast des Urteils, er versucht keinesfalls, seine eigene
Erziehungsmethode anzuwenden oder das bisherige Erziehungssystem
zu ändern. Der Gast bringt in seinem Gepäck all das mit, was er
während seines Aufenthalts braucht, damit er die Grosszügigkeit
seiner Freunde nicht missbraucht. Vielleicht haben Ihre Gastgeber
wenig oder gar kein Personal, dann werden Sie ihnen nach Möglichkeit
allzu viele Arbeit ersparen: Sie kommen nicht mit einem Koffer voll
schmutziger Wäsche, damit gleich ein Waschtag für Sie eingelegt
werden muss.
Auf dem Land wird es als Unterhaltung angesehen, in die Stadt zu
fahren und einzukaufen. Jetzt, da die Zeiten wieder normal geworden
sind, ist es nicht mehr nötig, dass Sie Ihren Teil zur Ernährung der
Gastgeber beitragen. Wenn Sie es dennoch tun, könnten Ihre Freunde
glauben, dass Sie sich bei ihnen nicht sattessen können. Man kann
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