Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)
anderen. Wichtig war nur, dass man es bis in die Zentrale hinauf schaffte. Das war das Allerwichtigste, dass die Japse dich an die Brust drücken, dass du es ins Zentrum schaffst, Spitzenmann wirst, eine Leitende Position bekommst, einer von ihren bevorzugten ›Rundaugen‹ wirst. Sobald du es bis da hinauf gebracht hattest, konnte dir im Leben nichts mehr passieren. Kein sehr erhabenes Ziel, jedenfalls von einem Idealzustand her betrachtet, aber eine andere Chance hatte Carpenter eben nicht. Entweder man spielte das Spiel der ›Firma‹, das wusste er, oder man spielte überhaupt nicht mit.
An diesem Spatfrühlingstag um halb sieben am Morgen, während der Raum bereits voller frühem Sonnenlicht war und Carpenter ohnehin kurz vor dem Aufwachen lag, gab sein Firmenkommunikator einen langen Piepton von sich, der Visorschirm am Fußende des Bettes wurde hell und eine vertraute dunkle Altstimme sagte: »Auf-auf, Salaryman Carpenter! Erhebe dich und sing mit mir die Samurai-Hymne: Unser Herz ist rein, unser Kopf ist klar. Wir denken für die FIRMA … Immer-, immerdar … Hab ich dich zu früh geweckt, Salaryman Carpenter? Bei dir an der Westküste zieht doch der Morgen schon mächtig herauf, oder? Bist du wach? Allein? Knips mal Visual an, Salaryman Carpenter! Lass mich dein fröhliches Lächeln sehen. Deine geliebte Jeanne ist hier!«
»Um Himmels willen, hab ein bisschen Erbarmen«, knurrte Carpenter. »Mein Hirn läuft noch nicht wieder richtig.« Er blinzelte zum Visor hinunter. Dort sah ihm Jeanne Gabels breitflächiges Eurasiergesicht entgegen, dunkeläugig mit betonter Knochenstruktur. Ein paar kleine Korrekturen an Kinn und Wangen, und es hätte das Gesicht eines Mannes sein können. Jeanne und er waren gute Freunde (aber niemals ein Liebespaar) gewesen, als sie gemeinsam im Samurai-Büro in St. Louis starteten. Vor vier Jahren war das. Und sie saß jetzt in Paris – und er hockte in Spokane: Die Firma hielt viel von Jobfluktuation und Mobilität bei ihren Leuten. Ab und zu riefen sie sich gegenseitig an.
Er aktivierte den Sichtkanal auf seiner Seite, so dass sie das schäbige Hotelzimmer sehen konnte, das zerwühlte Bett, seine schlafverklebten Augen. »Schwierigkeiten?«, fragte er.
»Nicht mehr als üblich. Aber ich habe Neuigkeiten.«
»Gute oder schlechte?«
»Das hängt davon ab, wie du's betrachten willst. Ich hätte da 'nen Deal für dich. Aber geh erst mal, wasch dir das Gesicht, putz dir die Zähne und kämm dich. Du siehst ziemlich verboten aus, weißt du …«
»Schließlich bist du's ja, die mich in aller grauen Herrgottsfrühe aufschreckt und verlangt, dass ich den Visor anschalten soll!«
»Hier bei uns in Paris ist der Tag bereits vorbei. Ich habe so lang wie möglich mit dem Anruf gewartet. Also, geh schon und wasch dich. Ich bleib' dran.«
»Dann dreh dich bitte um. Ich hab nämlich nichts an.«
»Aber gern.« Sie lächelte frech, sah aber weiter unbeirrt aus dem Visor zu ihm herein.
Achselzuckend kletterte Carpenter aus dem Bett. Nackt. Er ließ den Visor angeschaltet. Soll sie sich doch was abgucken, wenn's ihr Spaß macht, dachte er. Vielleicht bringt's ihr ja was. Carpenter war Ende dreißig, schlank, hatte schulterlange gelbe Haare und einen braunen Bart, und er war knäbisch stolz auf seinen Körper, die langen schlanken Muskeln, den festen Bauch und den strammen Hintern. Er patschte splitternackt durch das Zimmer zur Waschzone und steckte den Kopf unter den Sonarreiniger, und der Apparat schnurrte und pulste.
Gleich danach fühlte er sich sauber und fast wach. Der SCREENinjektor lag auf dem Toilettentisch; er nahm ihn und verpasste sich, ohne weiter nachzudenken, seinen Morgenschuss. Man kroch aus dem Bett, man reinigte sich, man entleerte die Blase und man gab sich die entsprechende Dosis Screen. Jeder Mensch begann seinen Tag so, jeden Tag. Draußen erwartete dich die Sonne in dem mörderisch-aggressiven weißen Glast des Morgenhimmels, und du wolltest ja schließlich dieser sagenhaften Glut nicht entgegentreten, ohne pflichtschuldig deinen Hautschutzpanzer erneuert zu haben. Wie jeden Tag.
Carpenter schlang sich ein Badetuch um die Hüften und wandte sich wieder dem Visor zu. Jeanne betrachtete ihn wohlgefällig anerkennend.
»Viel besser«, sagte sie.
»Ich bin beglückt. Du sagst, du hast einen Deal für mich?«
»Möglich. Aber es liegt ganz bei dir. Bei unserm letzten Gespräch hast du gesagt, du drehst da droben in Spokane völlig durch und kannst es kaum
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