Der Herr Der Drachen: Roman
durch einen Schleier an.
Plötzlich ertönte lautes Gelächter auf der Großen Allee, und Shaan sah zur Einmündung der Gasse, dann zurück zu Nilah. Diese konnte den Blick noch immer nicht vom Boden abwenden und hielt sich an Shaan fest. »Nilah.« Sie schüttelte ihren Arm.
»Was?« Mühsam blinzelte sie mit verschwommenem Blick.
Na, großartig. Das Mädchen war kaum bei Bewusstsein, und sie konnte sie hier nicht zurücklassen. Verflucht! Shaan holte tief Luft und beugte sich vor, um ihren Speer aufzuheben.
»Komm schon.« Sie zog Nilah mit sich, als sie zum Eingang der Gasse lief, um ihren Schnürbeutel zu holen und zu schauen, ob die Luft rein war.
Der dicke Mann, der vor dem Gasthaus einen Kampf gesucht hatte, war verschwunden, aber noch immer waren Leute unterwegs. Sie drehte sich um. Nilahs Gesicht war sehr blass, und ihr Atem ging flach. Ihre Augen huschten ruhelos hin und her.
»Nilah!« Shaan ergriff ihre Hand. »Sieh mich an.«
Ihr Blick wanderte zu Shaan, und mit einem Ruck schien sie wieder klar zu sehen.
»Wir müssen hier weg, in Ordnung?« Shaan schaute sie eindringlich an, und Nilah nickte.
»Dann los.« Shaan warf sich die Tasche über die Schulter, drückte Nilah den Speer in die Hand, legte ihr einen Arm um die Taille und schob sie vorwärts.
Nilah war bleich, und sie stützte sich schwer auf Shaan, während sie die Straße entlangliefen. Ihre Augen im farblosen Gesicht wirkten riesig, und sie umklammerte den Speer so sehr, dass ihre Fingerknöchel weiß hervorstachen.
Die Sonne näherte sich dem Horizont und malte lange Schatten auf die Straße. Bis es Shaan gelingen würde, Nilah irgendwohin zu begleiten, wo sie sicher war, würde die Sonne schon längst untergegangen
sein. Kein Fischen heute. Was war nur in sie gefahren, dass sie sich eingemischt hatte? Shaan verwünschte sich im Stillen. Zuerst der Junge im Wirtshaus und nun das. Versuchte sie denn, alles daranzusetzen, dass man sie wieder in eine Zelle warf? Alles, was ihr jetzt noch fehlte, war ein Jäger, der auftauchte und sie zu Kommandant Rorc schleifte.
Die Gasse mündete in eine weitere, kurze Straße, die um die Ecke eines langen, mächtigen Gebäudes führte. Auf der anderen Seite befand sich die Große Allee. Shaan blieb stehen und fragte sich, welche Richtung sie einschlagen sollte. Sie konnte nicht zum Hafen, und wenn sie zum Red Pepino zurückkehrte, würde das zu viele Fragen von Torg nach sich ziehen. Sie biss sich auf die Lippen.
Ein kleiner, offener Karren, auf dem sich Kisten stapelten und der von einem alten Muthu gezogen wurde, ratterte an ihnen vorbei. Die langen Beine des Tieres waren unter seinem kurzen, sandfarbenen Fell voller Narben, und das Muthu kaute geräuschvoll. Der Fahrer starrte sie an, als er sie überholte.
Nilah drängte Shaan: »Bring mich zum Haus eines Freundes.«
»Wo ist das?«
»In den Hügeln in dieser Richtung.« Nilah nickte zu der kurvigen Straße, die zur Großen Allee führte.
Shaan kaute auf ihrer Lippe. Wenn dieser Freund in den Hügeln wohnte, dann bedeutete dies, dass er ein wohlhabender Mann war, vielleicht sogar mit Beziehungen zum Palast. Sie schüttelte den Kopf. Was hatte sie denn sonst erwartet? Nilah stammte ganz offenkundig nicht aus einer Familie, der es an Geld mangelte, wenn man sich ihr Kleid ansah. Shaan fluchte leise und schob ihre Tasche höher auf die schmerzende Schulter. Sobald sie Nilah dort abgeliefert hatte, würde sie wieder verschwinden.
»Dann los«, sagte sie und führte sie zur Allee.
Sie mühten sich die Hügel der Stadt empor. Nilahs Kräfte ließen rasch nach, und sie stützte sich immer stärker auf Shaan, je höher sie stiegen. Im Vergleich zur tiefer gelegenen Stadt war es hier
oben stiller und kühler, und rechts und links von ihnen erstreckten sich die Häuser von Salmuts reicheren Bürgern, verborgen hinter hohen Mauern. Exotische Blumen und Früchte hingen darüber und versprühten ihren Duft in die Luft, und die Bäume warfen ihre Schatten auf die hellen, glatten Steine der Straßen. Tiefe, schmale Abflussrinnen säumten beide Seiten. Die einzigen Menschen zu Fuß, an denen sie vorbeikamen, schienen Bedienstete zu sein, doch sie wurden von etlichen überdachten Wagen überholt, bei denen die dicken Vorhänge sorgfältig zugezogen waren. Vielleicht bewegten sich die Reichen überhaupt nur in Wagen von Ort zu Ort, dachte Shaan.
Die meisten Dienstboten gingen ihnen aus dem Weg, kaum dass sie das Paar erblickt hatten. Ihre Blicke
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