Der Herr der Falken - Schlucht
seinen Hals und stellte sich auf Zehenspitzen. »Du bist gekommen, Cleve. Das habe ich nicht erwartet. Die Götter meinen es nicht oft gut mit uns Sterblichen. Ich habe mich nach dir gesehnt und mußte ständig an dich denken. Was du tust, ob du an mich denkst. Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt.« Sie küßte sein Kinn und seine Wange, da er rasch den Kopf drehte, um zu verhindern, daß sie ihn auf den Mund küßte und versehentlich seine Narbe berührte. Er hätte den Ekel in ihren Gesichtszügen nicht ertragen.
Mit einem Mal wurde Chessa bewußt, daß seine Arme steif an ihm herunterhingen. Er stand da wie ein Holzklotz, sagte kein Wort, rührte sich nicht. Er ließ ihre stürmische Begrüßung über sich ergehen, sie war ihm lästig. Sie ließ die Arme sinken, trat verwirrt zwei Schritte zurück, den Blick zu Boden gesenkt, und fühlte sich gedemütigt. Alle hatten es gesehen. Alle hatten seine Zurückweisung gesehen. Alle. Vor Scham wäre sie am liebsten in den Erdboden versunken. Das Glück, ihn so unerwartet hier zu sehen, hatte sie alle Scheu vergessen lassen. Wie töricht von ihr. Sie hatte keine Ahnung, was in Männern vorging. Wieder einmal hatte sie sich geirrt.
Sie mußte die Situation retten, konnte nicht einfach dastehen wie ein kleines Kind und ihre Zehen in den Sand bohren. Sie hob das Gesicht. Sie war sehr blaß.
»Verzeih«, fing sie an, und ihr Kinn reckte sich vor. »Es war die Überraschung. Ich habe dich nicht erwartet. Es war nur die Freude, ein bekanntes Gesicht zu sehen, sonst nichts. Das heißt, ich habe oft an dich gedacht, nein, ich meine ...«
»Ich weiß«, sagte er. »Geht es dir gut, Chessa?«
»Ja, es geht mir gut. Ich nehme an, die Männer haben dir erzählt, was passiert ist?«
Cleve nickte. »Nicht alles, aber den Rest kannst du mir erzählen, bevor wir aufbrechen.«
»Was soll das heißen, aufbrechen?«
»Um nach Rouen zu deiner Hochzeit mit Wilhelm zu reisen. Wir haben deine Ankunft in Rouen erwartet, als wir von deiner Entführung erfuhren. Unser Verdacht fiel sogleich auf Ragnor von York. Deshalb sind wir losgefahren, um dich zu befreien.«
Chessa nickte wie betäubt. »Und warum habt ihr die Habichtsinsel angelaufen?«
»Merrik von Malverne und Lord Rorik sind Brüder. Es war vorgesehen, hier Halt zu machen. Daß der Sturm euch hier stranden ließ, konnten wir nicht ahnen.« Er trat einen Schritt vor und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Chessa, versuche zu verstehen. Ich habe keine andere Wahl. Ich kann nur über mich und mein Leben bestimmen. Und jetzt ist selbst meine Zukunft ungewiß.«
Sie schwieg und fragte sich, was er damit meinte, er habe keine Wahl? Wollte er damit etwa sagen, daß er sich für sie interessieren würde, wenn sie keine Prinzessin und nicht Wilhelm versprochen wäre? Sie begriff nicht, was in ihm vorging. Er war so glatt, so verschlossen. »Ich verstehe«, murmelte sie, machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn stehen.
Rorik berichtete seinem Bruder Merrik. »Sie sprach mit solcher Begeisterung von Cleve, bevor ihr kamt, daß ich mich frage, was zwischen den beiden ist. Aber die Zuneigung scheint ziemlich einseitig zu sein.«
Merrik antwortete mit Blick auf Cleve, der sich immer noch nicht vor der Stelle gerührt hatte und Chessa, die im Haus verschwand, mit den Augen verfolgte. »Du weißt, daß Sarlas Betrug ihn äußerst mißtrauisch gegen Frauen gemacht hat. Bei Thors Hammer, Sarla versuchte sogar, ihn zu töten und ihm Kiri wegzunehmen. Was würdest du nach einer solchen Erfahrung von Frauen halten?«
»Ich weiß nicht«, sagte Rorik. »Vielleicht liebt Cleve sie. Da er aber den Ehevertrag für Herzog Rollo ausgehandelt hat, verbietet ihm die Ehre, ihr nahezukommen. Seltsam. Sie scheint seine Narbe nicht zu sehen. Sie sprach davon, wie schön sein Gesicht und sein Körper ist.«
»Sollte Sarla seine häßliche Narbe gesehen haben, so redete sie jedenfalls nicht darüber«, entgegnete Merrik.
»Das stimmt nicht. Sie fand die Narbe abstoßend. Ileria gestand sie, daß sie sich nie mit ihm eingelassen hätte, wenn sein Körper nicht so kraftvoll wäre, wenn er ihr nicht solche Lust bereitet hätte. Sie ertrug sein Gesicht nur, weil er sie maßlos vergötterte und ihr half, Erik zu vergessen. Als Ileria mir das beichtete, hätte ich Sarla umbringen können. Aber Chessa meint es ehrlich, ihre Gefühle sind echt.«
Merrik fluchte in sich hinein.
»Du hast recht«, bestätigte sein Bruder. »Das Leben ist nicht einfach.«
»Ein
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