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Der Herr der Lüfte

Der Herr der Lüfte

Titel: Der Herr der Lüfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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der Weg, um Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Noch immer regiert der Zar Rußland - wenn auch heutzutage durch sein sogenanntes Parlament.«
    »Das ist wahr, Wladimir Iljitsch«, murmelte Dutschke, und ich gewann allmählich den Eindruck, daß er dem alten Mann seinen Willen ließ. Zweifellos bewunderte er in ihm den ehemaligen Revolutionär, doch heute ertrug er ihn als einen, der in seiner Zeit Großes vollbracht hatte und nun ein wenig senil geworden war.
    »Oh, wenn ich nur die Gelegenheit gehabt hätte«, fuhr Uljanow fort, »ich hätte Kerenski schon gezeigt, was Demokratie heißt. Ich hätte die Macht des Zaren beschränkt - vielleicht ihn ganz hinausgeworfen. Ja, ja, das wäre möglich gewesen, wenn das ganze Volk aufgestanden wäre und sich gegen ihn gestellt hätte. Es muß einen Augenblick in der Geschichte gegeben haben, als dies hätte geschehen können, und ich habe ihn verpaßt. Vielleicht habe ich geschlafen, vielleicht war ich zum richtigen Zeitpunkt noch in Deutschland im Exil, vielleicht« (hier lächelte er verträumt) »habe ich gerade mit einer Frau im Bett gelegen! Ha! Aber eines Tages wird Rußland frei sein, was Rudolf? Aus diesen Romanows werden wir ehrliche Arbeiter machen, und Kerenski und sein Parlament schicken wir nach Sibirien, wie sie es mit mir gemacht haben, was? Die Revolution muß bald kommen!«
    »Gewiß, Onkelchen.«
    »Sollen sie die Menschen nur noch eine Zeitlang hungern lassen. Sollen sie sie noch ein bißchen härter arbeiten lassen. Sollen sie sie Krankheiten, Angst und Tod nur noch ein bißchen besser kennenlernen lassen - so werden sie sich erheben. Eine Woge der Menschlichkeit wird über die Prinzen und Händler hinwegschwappen und sie in ihrem eigenen Blute ertränken!«
    »Du sagst es, Onkelchen.«
    »Oh, wenn ich nur meine Chance bekommen hätte. Wenn ich hätte die Duma beherrschen können - aber die Ratte Kerenski hat mich ausgetrickst, mich diskreditiert und aus meinem Heimatland, meinem Rußland, vertrieben.«
    »Du wirst gewiß eines Tages zurückkehren.«
    Uljanow zwinkerte Dutschke verschlagen zu. »Ein paarmal war ich schon wieder dort. Ich habe meinen reichen, politischen Freund Bronstein besucht und ihn in Angst und Schrecken versetzt, daß man ihn ebenfalls für einen Revolutionär halten würde, wenn die Ochr'ana mich in seinem Haus fände. Das war er natürlich früher einmal gewesen, doch er zog es vor, seine Ansichten zu revidieren und seinen Sitz in der Duma zu behalten. Juden! Die sind doch alle gleich.«
    Angesichts dieses plötzlichen Ausbruchs schaute Dutschke etwas mißbilligend drein. »Es gibt Juden und Juden, Onkelchen.«
    »Richtig, aber Bronstein… Ach, was soll's? Er ist 97 Jahre alt - bald wird er sterben, und bald werde auch ich sterben.«
    »Aber deine Schriften, Wladimir Iljitsch, werden immer lebendig bleiben. Sie werden jede neue Generation von Revolutionären inspirieren, all jene, die gelernt haben, Ungerechtigkeit zu hassen.«
    Uljanow nickte. »Ja«, sagte er. »Wollen wir es hoffen. Aber du wirst dich nicht daran erinnern…« Und nun setzte er zur Erzählung einer weiteren Reihe politischer Anekdoten aus der Vergangenheit an, während Dutschke seine Ungeduld verbarg und höflich zuhörte, sogar als der alte Mann ihn einmal streitsüchtig angriff, nicht den wahren Weg der Revolution zu verfolgen.
    In der Zwischenzeit stieß ich das Zauberwort »Essen« hervor, und wieder erschien das chinesische Mädchen in dem milchig blauen Oval. Ich bat um ein Frühstück für drei Personen, das sogleich geliefert wurde. Dutschke und ich langten kräftig zu, doch Uljanow war es verhaßt, Zeit überm Essen zu verlieren. Er sprach weiter, während wir unser Frühstück genossen. Uljanow erinnerte mich irgendwie an die alten Heiligen Männer, die Lamas, die mir in meinem früheren Leben als Offizier in der indischen Armee gelegentlich über den Weg gelaufen waren. Häufig wirkten seine Äußerungen ebenso abstrakt wie die ihren. Und doch hatte ich vor Uljanow die gleiche Achtung wie gegenüber den Lamas - wegen seines Alters, wegen seiner Überzeugung, wegen der Art, auf die er seine Prinzipien immer und immer wiederholte. Er erschien mir als freundlicher, harmloser, alter Mann - ganz anders als mein früheres Bild von einem überzeugten Revolutionär.
    Die Tür ging auf, während er erneut zu seiner Phrase von vorhin anhob... »Sollen sie die Menschen nur noch eine Zeitlang hungern lassen. Sollen sie sie noch ein bißchen härter arbeiten

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