Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
langen Märsche bei knappen Rationen – so knappen, dass sie nach auenländischer Ansicht eigentlich nicht ausreichen konnten, einen Hobbit auf den Beinen zu halten. Pippin behauptete, aus Frodo wäre inzwischen schon ein doppelt so stattlicher Hobbit wie zuvor geworden.
»Eigenartig«, sagte Frodo und schnallte den Gürtel enger, »wenn man bedenkt, dass doch tatsächlich nun einiges weniger an mir dran ist. Hoffentlich geht diese Abmagerungskur nicht endlos so weiter, sonst bin ich bald ein Geist.«
»Sprich nicht von so etwas!«, sagte Streicher hastig und überraschend ernst.
Die Berge kamen näher. Die wellenförmige Kammlinie stieg an vielen Stellen fast tausend Fuß hoch an und fiel anderswo zu tiefen Schluchten und Pässen ab, die ins östliche Land auf der andern Seite führten. Auf den Kammhöhen konnten die Hobbits Formen erkennen, die wie grün überwachsene Reste von Mauern und Dämmen aussahen, und in den Schluchten standen noch die Ruinen alter steinerner Bauten. Gegen Abend erreichten sie den Fuß der Westhänge und schlugen dort ihr Lager auf. Es war die Nacht des fünften Oktober und die sechste seit ihrem Aufbruch aus Bree.
Am Morgen fanden sie zum ersten Mal, seit sie den Chetwald verlassen hatten, wieder einen deutlich sichtbaren Pfad. Sie bogen rechts ab und folgten ihm in südlicher Richtung. Er war klug angelegt und nahm einen Verlauf, der darauf berechnet schien, ihn soweit wie möglich dem Einblick sowohl von den Hügelkuppen als auch vom Flachland im Westen zu entziehen. Er tauchte in Senken hinab, schmiegte sich an steile Hänge, und wo er durch flacheres und offeneres Gelände führte, war er zu beiden Seiten mit je einer Reihe großer Felsbrocken und behauener Steine eingefasst, die die Reisenden fast wie eine Hecke abschirmten.
»Ich frage mich, wer diesen Weg angelegt hat und zu welchem Zweck«, sagte Merry, als sie einen dieser Gänge entlangschritten, an dem die Steine ungewöhnlich hoch und dicht beieinander standen. »Ich kann nicht behaupten, dass mir das gefällt. Es sieht irgendwie – na, sagen wir, nach Grabwichten aus. Gibt es ein Hügelgrab auf der Wetterspitze?«
»Nein, weder auf der Wetterspitze noch auf einem der andern Berge gibt es ein Hügelgrab«, antwortete Streicher. »Die Menschenaus dem Westen lebten nicht hier; allerdings haben sie in ihren späten Tagen die Hügel eine Weile gegen das Böse, das aus Angmar kam, verteidigt. Dieser Weg diente einst zur Versorgung der Festungen hinter den Schutzwällen. Doch vor langer Zeit, in den frühen Tagen des Nördlichen Königreichs, wurde auf der Wetterspitze oder dem Amon Sûl, wie man den Berg nannte, ein großer Wachtturm erbaut. Er brannte aus und wurde geschleift, und heute ist nichts mehr davon zu sehen als ein Ring von Steintrümmern, ungefähr wie eine Krone auf dem Haupt des alten Berges. Doch einst war er hoch und schön. Es heißt, Elendil soll in den Tagen des Letzten Bündnisses von dort oben nach Gil-galad Ausschau gehalten haben, der von Westen kam.«
Die Hobbits sahen Streicher erstaunt an. Anscheinend kannte er sich in alten Überlieferungen ebenso gut aus wie in allem, was das Leben in der Wildnis betraf. »Wer war denn Gil-galad?«, fragte Merry, aber Streicher war in Gedanken versunken und antwortete nicht. Plötzlich murmelte eine leise Stimme:
Gil-galad hieß er, der die Kron
Der Elben trug, vor Zeiten schon
Als letzter Herr auf freiem Land
Zwischen Gebirg und Meeresstrand.
Sein Schwert war scharf und spitz sein Speer,
Sein Helm erglänzte von weither;
Des Himmels Sterne, Bild an Bild,
Strahlten von seinem Silberschild.
Seit langem klagt um ihn das Lied,
Doch niemand weiß, wohin er schied.
Sein Glanz erlosch, sein Stern ward blind
In Mordor, wo die Schatten sind.
Verblüfft wandten sich die anderen zu dem Sprecher hin, denn es war Sam.
»Mach weiter!«, sagte Merry.
»Weiter kann ich’s nicht«, stammelte Sam und wurde rot. »Das hab ich als Junge von Herrn Bilbo gelernt. Er hat mir viele solche Geschichten erzählt, weil er wusste, wie gern ich von den Elben hörte. Von Herrn Bilbo hab ich auch lesen und schreiben gelernt. Er kannte unglaublich viele Bücher, der gute alte Herr Bilbo. Und Gedichte hat er auch geschrieben. Was ich eben aufgesagt habe, ist von ihm.«
»Aber er hat es nicht frei erfunden«, sagte Streicher. »Es ist ein Stück aus einem Heldenlied, das Gil-galads Ende heißt und in einer alten Sprache geschrieben ist. Bilbo muss es übersetzt haben. Das wusste
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