Der Herr der Unruhe
kreisförmigen Bezirken bestehenden Trichter unter der nördlichen Erdhalbkugel. Ganz unten, im Mittelpunkt der Welt, hatte Luzifer seinen Sitz.
Nachdem Vergil und Dante aus den Tiefen des neunten Bezirks unter den südlichen Sternenhimmel getreten waren, begann für sie die Reise durch das zweite Jenseitsreich, il purgatorio, den Läuterungsberg. Fast schon erleichtert b e gleitete Nico die zwei Wanderer durch das Fegefeuer, w o bei ihm erst jetzt klar wurde, dass diese Bezeichnung e i gentlich irreführend war. Bei dem Läuterungsberg handelte es sich eigentlich um ein Spiegelbild der Hölle, also um einen auf dem Kopf stehenden Trichter. Während es aus dem Inferno kein Entrinnen gab, waren hier die Seelen »in Bewegung«, sie konnten sich durch Reue läutern und d a durch die höchste Ebene, das Paradies, erreichen. Mithin war der Läuterungsberg weniger ein abgemilderter Zwangsvollzug für Sünder, sondern ein »Ort der Hof f nung«.
Das Schweben von Dante und Beatrice durch die raum- und zeitlosen Sphären des Paradieses brachte Nico leichter hinter sich. Nach der Rückkehr in die Wirklichkeit fühlte er sich innerlich aufgeräumt. Gab es auch für ihn und Laura Hoffnung? Falls ja, dann musste der Weg in ihr gemeins a mes Paradies wohl ebenfalls zunächst durch ein dunkles Dickicht führen, in dem er sich allzu leicht verfangen kon n te. Noch einmal kehrte er zur dritten Strophe im vierten Gesang des Purgatorio zurück.
Indem wir hören oder etwas tritt in unsere Sicht,
Was stark uns anzieht,
Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht.
O wie Recht Dante damit hatte! In Lauras Gegenwart war die Zeit immer wie im Fluge vergangen. Wie hatte diese schlichte Weisheit nur einen solchen Streit heraufbeschw ö ren können …?
Mit einem Mal stutzte Nico. Vielleicht lag darin ja der Schlüssel zu des Rätsels Lösung. Es ging gar nicht um den Inhalt des Zitates. Mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Ja, so musste es sein. Seine Augen wande r ten an den Kopf der Seite, wo das Wort »Purgatorio« stand. Läuterungsberg. Oder Fegefeuer? Ohne sein bewusstes Z u tun kamen Worte über seine Lippen, die aus einer anderen Zeit stammten.
»Manchmal offenbaren die einzelnen Teile erst ihren ti e feren Sinn, wenn man sie durcheinander würfelt und neu ordnet«, wiederholte Nico die Weisheit, die ihn einst Mei s ter Johan gelehrt hatte.
14. KAP1TEL
Der Zerstreute
Wien, 1932
Meister Johan lächelte nachsichtig, als er seinen Schüler, über eine filigrane Medaillonuhr gebeugt, am Rande der Verzweiflung fand. Es war Nicos erster Winter in Wien. Den Jungen irritierten weniger die winzigen Organe im geöffneten Uhrenleib, er konnte sich nur nicht richtig ko n zentrieren. In der Nacht hatte ihn wieder dieser Albtraum heimgesucht, und die Arbeiter-Zeitung vom 19. Dezember 1932 brachte Stinkbomben und Tränengas auf den Frü h stückstisch.
Nachdem Nico den Artikel vom Anschlag der Nationa l sozialisten im Großkaufhaus Gerngroß gelesen hatte, war ihm der Appetit vergangen. In der Werkstatt hatte er sei t dem noch nichts Vernünftiges zustande gebracht.
»Du kommst mir heute irgendwie zerstreut vor. Was ist mit dir, Niklas?«, fragte der Meister.
Nico legte die Pinzette und den winzigen Schraubenzieher aus der Hand, ließ sich in die Stuhllehne zurücksinken und seufzte. »Ich kriege das alles nicht zusammen.«
Ob Johan die trübe Stimmung seines Lehrjungen nur auf die komplizierte Uhr bezog oder sehr genau wusste, was Nico bewegte, jedenfalls antwortete er vielsinnig: »Manchmal offenbaren die einzelnen Teile erst ihren tief e ren Sinn, wenn man sie durcheinander würfelt und neu or d net.«
Nico blickte irritiert auf die Organe des Uhrenanhängers, dann wieder in das Gesicht seines Lehrmeisters. »Ich weiß nicht genau, ob ich dich richtig verstehe.«
Johan konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Lass mich dir erklären, was ich damit meine. Sagt dir der Begriff kosmische Kombinatorik‹ etwas?«
Nico stülpte die Unterlippe vor und hob die Schultern.
»Aber von den Kabbalisten hast du doch schon gehört.«
»Ja, das waren irgendwelche jüdischen Zauberer.«
Johan grinste. »Keine Angst, ich will dich jetzt nicht in einen Frosch verwandeln. Ich würde sie eher Mystiker ne n nen. Ehrlich gesagt halte ich auch nicht viel von den G e heimlehren der qabbalah; falls dein Hebräisch hier streikt, das bedeutet nichts anderes als ›Überlieferung‹. Aber was mich wirklich
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