Der Herr der Unruhe
die Rückseite des Zettels geschri e ben und diesen wieder unauffällig im Erdreich ve r graben hatte, machte er sich auf den Rückweg nach Nett u nia.
Am Abend saß er im Schneidersitz auf dem Heuboden von Domenico Amicis Hof, über sich eine nackte Glühla m pe und im Schoß ein rotes halbledernes Buch.
DANTE ALIGHIERI
LA DIVINA COMMEDIA
Seine Gedanken wanderten die Jahre zurück bis zu jenem unseligen Abend, als ein Zitat aus Dantes Göttlicher Kom ö die den Auftakt zu einem unsäglichen Drama gegeben ha t te.
»›Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht‹«, murmelte Nico die Worte aus dem Deckel der Lebensuhr. Warum war Manzini darüber so in Rage geraten? Weshalb hatte er sich nicht mit der Beseitigung des »Makels« b e gnügt, sondern die Zerstörung der Uhr verlangt? Wieso wollte er, dass der Uhrmacher und sein Sohn Nettuno ve r ließen? Und worum sorgte sich das sonst mit allen Wassern gewaschene Schlitzohr, als Emanuele ihm ein Gerichtsve r fahren angedroht hatte? Zweifellos wäre dabei der Streit über das Dante-Zitat in allen Einzelheiten erörtert worden. Welche Gaunereien, so fragte sich Nico, hätten dabei ans Licht gezerrt werden können? »Niemand verrät mich …«
Manzinis Worte hallten noch in Nicos Geist, als er das Buch aufschlug. Der Uhrmachermeister hatte dieses E x emplar der Göttlichen Komödie stets in seiner Werkstatt aufgehoben, um interessierten Kunden den Ursprung des »Markenzeichens« der Handwerkerfamilie dei Rossi zu erklären. Natürlich erzählte er auch seinem Sohn so ma n ches über das von ihm so geschätzte Werk. Wen oder was konnte das Zitat aus dem Purgatorio verraten? Nachden k lich schlug Nico das Inhaltsverzeichnis auf. Es handelte sich um eine mehr als tausend Seiten starke kommentierte Ausgabe. Die rasch überflogene Einleitung des Autors – er hieß Giuseppe Vandelli – frischte nicht nur verblasste Eri n nerungen auf, sie ließ auch sein Herz von neuem bluten. All die Ablenkungen der letzten Tage waren für die Wunde dort nur ein schmutziges Pflaster gewesen. Jetzt erst begriff er richtig, warum er sich dem großen, vielleicht größten Dichter des Mittelalters so nahe fühlte.
Dante hatte sein Hauptwerk einer unerfüllten Liebe g e widmet.
Mit neun sah er ein Mädchen in blutrotem Kleid, dem er auf ewig verfiel. Sie hieß Beatrice, und als sie im viel zu jungen Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren verstarb, beschloss er, »von ihr in einer Weise zu sprechen, wie noch von keiner jemals gesprochen worden ist«. Aus diesem Vorsatz entstand eines der Kronjuwelen der Weltliteratur.
Die Göttliche Komödie – seinen endgültigen Namen e r hielt das Werk erst durch Lodovico Dolce Mitte des sec h zehnten Jahrhunderts – bestand aus einhundert Gesängen, die in drei Teile gegliedert waren: Inferno, Purgatorio und Paradiso – Hölle, Fegefeuer und Paradies. Dante selbst machte sich darin zum Reisenden durch die drei Reiche der Toten. Er will, so beschreibt es sein Epos, im Jahre 1300 durch einen dunklen Wald geirrt sein, einen Wald voller Sünden. Auf der Suche nach einem Weg aus dem Dickicht trifft er den griechischen Dichter Vergil, die Verkörperung von Vernunft, Wissenschaft und Philosophie. Diese drei läutern den Wanderer schließlich auch, nachdem er an Ve r gils Seite die Hölle und das Fegefeuer durchquert hat, auf einem Drachen geritten ist und zwei Bootsfahrten unte r nommen, die Bekanntschaft von fünfunddreißig Monstern gemacht und nicht weniger als einhundertachtundzwanzig namentlich genannte Sünder getroffen hat. Von Reue gere i nigt, darf er das Paradies betreten. Dorthin geleitet ihn Be a trice, seine unerfüllte Liebe, das Sinnbild von Glauben und Gnade. Und indem er durch sie und mit ihr zur Erkenntnis gelangt, erfährt er die göttliche Liebe und findet die ewige Glückseligkeit.
»Ich wünschte, ich könnte von Laura in einer Weise spr e chen, wie es noch nie ein anderer getan hat«, murmelte N i co. Er musste sich die Nase putzen, weil ihm mit einem Mal ganz mulmig geworden war. Nachdem er sich gefasst hatte, machte er sich an die Lektüre der Gesänge. Die unter den dreizeiligen Strophen gedruckten Kommentare ignorierte er.
Der Anfang war die Hölle. Buchstäblich. Auf ihrem Tor liest Dante die Worte: »Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr eintretet.« Nico fühlte sich einmal mehr schmerzhaft an seine eigene Situation erinnert. Aber er las weiter. Der Dichter beschrieb das Inferno als einen riesigen, aus neun
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