Der Herr der Unruhe
freie Bahn. Ich verspreche dir, deine ›Post‹ wie ausgemacht abzuliefern. Mit ziemlicher Sicherheit wird Don Massimiliano, nach der Blamage, die er heute Mittag erlebt hat, genau so reagieren, wie du dir das erhoffst.«
»Und mit deiner Hilfe werden wir den Plan zum Erfolg führen.«
Nico stöhnte. »Also meinetwegen: Wenn ich heute leer ausgehe, dann helfe ich euch. Aber das ist das letzte Mal, hörst du?«
»Kann dich irgendetwas umstimmen?«
»Gar nichts.«
Bruno hatte den Waldboden angestarrt, als wollte er das feuchte Unterholz mit Blicken in Brand stecken. Schlie ß lich nickte er. »Dann soll es so sein.«
Auf der weiteren Fahrt nach Nettunia hatte sich Nico e r bärmlich gefühlt. Er wurde das Gefühl nicht los, seinen Freund mehr als nur enttäuscht zu haben. Vielleicht stim m te ja, was Meister Johan einmal gesagt hatte. Jede Bezi e hung sei in ständiger Bewegung: Entweder sie wird stärker, oder man treibt voneinander fort, bis man sich aus den A u gen verliert.
Vom südlichen Stadtrand aus war Nico die letzten zwei Kilometer gelaufen. Im Schutz der Tamarisken, die auf der Uferpromenade standen, näherte er sich der alten Stadt. Sie lag schwarz wie eine urtümliche, schlafende Riesenechse vor ihm. Mit Italiens Eintritt in den Krieg hatten auch die nächtlichen Verdunkelungen begonnen, und spätestens seit Nettunos Verwandlung in eine Geisterstadt war leises Au f treten die wichtigste Tugend, wollte man der Entdeckung durch die Besatzer entgehen. Inzwischen hatte Nico gelernt, sich fast lautlos zu bewegen.
Im Keller des Palazzo Manzini war es dunkel wie in e i nem Ofenrohr. Abermals musste er das Jucken am Bauch bekämpfen, bevor er seine neue Handlampe einschalten konnte. Das Scheinwerferglas ließ sich mit Metalllamellen stufenlos abdecken. So konnte er die Lichtmenge im B e darfsfall bis auf null reduzieren. Ein letztes Mal kontrollie r te er sein Äußeres. Von den Schuhen über die Hosen und die Schlupfjacke bis zu der durchlöcherten Strickmütze, die er sich über den Kopf gestülpt hatte, war er ganz in schwarz gekleidet – ein dreidimensionaler Schatten. Vorsichtig bahnte er sich den Weg durch das herumstehende Gerü m pel.
Wenig später erreichte er über eine Nebentreppe das Er d geschoss des Palastes. Er lauschte. Leise Stimmen trieben wie Nebelschleier an ihm vorbei. Es hörte sich nach Ube r tos Lachen und Violas Kichern an – Viola war das K ü chenmädchen. Auf Zehenspitzen huschte Nico zum Au f gang, der in den ersten Stock führte, eilte die Treppen e m por und verharrte erst wieder, als er die obere Galerie e r reichte.
Wieder lauschte er. Das letzte Mal, als er in den Palazzo Manzini eingedrungen war, hatte Laura Musik gehört. Für einen Moment glaubte er tatsächlich, den Widerhall eines Rundfunkempfängers zu vernehmen, aber dann wurde ihm klar, dass seine Einbildung ihn narrte. Er wünschte sich so sehr, ihre Stimme zu hören oder nur ein Atmen, den Laut ihrer leichten Schritte, das Rascheln ihrer Kleider …
Nichts. Die Galerie lag leer und still da. Nur das leise Plätschern des Nieselregens auf dem Mosaik im Lichthof war zu hören.
Dicht an der Wand entlang schlich er zu Manzinis A r beitszimmer. Er legte das Ohr an die Tür. Wieder nichts. Von drinnen kam nicht der kleinste Laut, und auch das Schlüsselloch war dunkel wie ein Maulwurfsbau. Nico le g te die Hand über das Schloss und bewegte sie leicht hin und her. Er widerstand dem Drang, die kleine Melodie zu su m men. Sie war vielleicht hilfreich, aber nicht nötig. Ein leises Scharren erklang. Er drückte die Klinge nieder und öffnete die Tür.
Lautlos betrat er den Raum. Geruch von kaltem Zigarre n rauch lag in der Luft. Um von draußen nicht gesehen zu werden, wollte er einen Stofffetzen ins Schlüsselloch der nun wieder geschlossenen Tür stopfen, stellte aber übe r rascht fest, dass es bereits abgedichtet war. Was hatte das zu bedeuten? Er vergrößerte ein wenig die Öffnung über dem Strahler und schaltete die Handlampe ein. Der gelbe Lichtfinger zuckte nervös durch den großen Raum. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert, abgesehen von der jetzt unbeleuchteten Glasvitrine. Die Lebensuhr wurde ja im Tresor aufbewahrt, wie Nico von Manzinis Chauffeur erfahren hatte.
»Nicht mehr lange«, flüsterte er und lief zu der vorderen Säule, in der sich das Geheimversteck befand. Er öffnete die Holzverkleidung und begann sein stilles Zwiegespräch mit dem Kombinationsschloss. Wie vermutet, hatte
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