Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
zurückgelassen – obwohl ich eigentlich nicht annahm, dass Kendrick so schwache Nerven hatte, dass er sich vom Anblick eines schmächtigen Jungen abschrecken ließ.
Nachdem ich etwa zwanzig Minuten gewartet hatte, kam er herein. Der talentierteste Dieb seit der Hinrichtung von Jack Free dem Ungestümen war ein kleiner Tarasaihgner mit offenem Gesichtsausdruck und etwas hellerer Haut, als die meisten dieser Sumpfbewohner sie hatten. Abgesehen davon wirkte er absolut durchschnittlich. Wir waren uns schon ein paarmal begegnet, unter Umständen, die recht verstohlen und der Intimität nicht förderlich waren.
»Lange nicht gesehen«, sagte er.
»Doktor Kendrick! Welche Freude!«
Er hängte seinen Mantel an den Haken neben unserer Nische und nahm mir gegenüber Platz. »Kann ich mir nicht vorstellen. Ich war ziemlich überrascht, als Mort mir erzählte, wer sich an ihn gewandt habe. Hatte eigentlich immer den Eindruck, dass Sie mich nicht besonders mögen.«
Da lag er ganz richtig – ich mochte Doktor Kendrick in der Tat nicht. Er war recht zugänglich, und seine Fähigkeiten standen außer Frage, aber ich hatte noch nie mit ihm zusammengearbeitet und hätte es vorgezogen, wenn das so geblieben wäre.
Der Verhaltenskodex von Verbrechern wird von Anstand, wenn auch nicht von Ehrlichkeit bestimmt und beruht auf nacktem Eigennutz sowie der Akkumulation von Kapital. Um mit einem Mann zusammenzuarbeiten, braucht man ihn nicht zu respektieren, man braucht ihm noch nicht einmal zu trauen. Man muss nur wissen, dass er bei dem Geschäft gut abschneidet. Aber Kendrick machte sich nichts aus Geld. Ärzte sind nicht gerade arm, außerdem hatten ihm seine Raubzüge so viel eingebracht, dass er sich längst als reicher Mann hätte zur Ruhe setzen können. Er betrieb sein verbrecherisches Gewerbe vor allem wegen des Nervenkitzels – das konnte man an seinem Blick ablesen.
Letzten Endes war es mir gleich, wie viele Ockerlinge er schon gestohlen hatte oder dass sein Name in der ganzen Unterwelt voller Ehrfurcht ausgesprochen wurde. Es war mir auch egal, dass er eine steile, glatte Felswand hochklettern konnte oder es schaffte, ein kompliziertes Schloss zu knacken, während er sich zwischendurch den einen oder anderen Schnaps hinter die Binde kippte. In meiner Kindheit in der Unterstadt hatte ich schnell gelernt, dass nur der Kampf ums Überleben Verbrechen rechtfertigt. Nach Aufregung und Ruhm trachtet man, wenn der Magen bereits voll ist. Der Doktor war auf Nervenkitzel aus. Für ihn war das Ganze kein Geschäft, sondern Spiel. Solch einem Mann darf man nicht trauen, denn er neigt dazu, im ungünstigsten Augenblick verrücktzuspielen.
Natürlich hätte jeder Profi mit Selbstachtung die Finger von solch einer unausgegorenen Sache gelassen – deshalb hatte ich mir gar nicht die Mühe gemacht, andere darauf anzusprechen. Die besondere Art des Unternehmens schränkte die Auswahl stark ein.
»Ich habe keinen großen Bedarf an Kompagnons. Normalerweise ziehe ich es vor, allein zu arbeiten. Aber jetzt geht es um eine Sache, die Ihr einzigartiges Talent erfordert.«
»Was Sie nicht sagen«, erwiderte er und winkte die unansehnliche Kellnerin heran, um ein Bier zu bestellen. Ich wartete, bis sie außer Hörweite war, bevor ich fortfuhr.
»Womit ich nicht Ihr Renommee im Umgang mit einem Skalpell meine.«
»Ich habe auch nicht angenommen, dass Sie sich an mich gewandt haben, um über meine Untersuchungen zur Augenhöhle zu sprechen.«
Ich trank einen Schluck Ale. »Wären Sie bereit, kurzfristig und ohne Vorbereitung einen Job zu übernehmen?«
Er nickte gelassen.
»Haben Sie je in Anwesenheit von Publikum gearbeitet? Zum Beispiel während einer Dinnerparty?«
»Ein- oder zweimal. Ist eigentlich nicht mein Stil, aber …« Er zuckte die Achseln. »Ich habe schon alles gemacht.«
Die Kellnerin kam mit Kendricks Bier und versuchte, seinen Blick auf sich zu lenken, worauf er jedoch nicht einging. Schmollend ging sie davon. Ich trank einen weiteren Schluck Ale, um die Neugier des Doktors zu schüren. »Ich möchte, dass Sie morgen Abend in das Haus von Lord Beaconfield einsteigen und in sein Arbeitszimmer einbrechen. Morgen findet seine Mittwinterparty statt, sodass die Hälfte des Adels von Rigus dort anwesend sein wird. Und ich kenne die Anlage des Hauses nur flüchtig, kann Ihnen also lediglich eine allgemeine Beschreibung geben.«
»Sie meinen die Lächelnde Klinge.« Er kaute auf seiner Unterlippe herum, um ein Grinsen zu
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