Der Himmel so fern
Stück für Stück wieder jeden Körperteil spüren und bewusst wahrnehmen. Als ich die Augen aufschlug, erblickte ich etwas völlig Ungewöhnliches. Ich leuchtete ganz schwach. Das Licht kam aus meinem Inneren, als hätte dort jemand eine Lampe angeknipst, und strömte leicht pulsierend durch meine Haut. Je mehr es sich ausbreitete und je intensiver es wurde, desto schwerer fiel es mir, in diesem Gefühl von Sinnlosigkeit zu verharren. Das Weinen versiegte. Einen Augenblick lang blieb das Licht, wie es war, changierte nur leicht. Verzweifelt riss ich an den Stricken aus Selbstverachtung und Scham, an die ich mich mit Gewalt gekettet hatte, aber am Ende waren sie fort, und ich stand einfach da. Arayan ließ nicht von mir ab, der Lichtschein war so stark, dass ich mich beinahe selber blendete. Meine Gedanken waren nicht verschwunden, doch jetzt konnte ich sie mit Abstand betrachten. Die Hoffnungslosigkeit, all die Schuld und das schlechte Gewissen sah ich wie handliche Pakete vor mir liegen. Ich konnte sie einzeln nehmen, sie anschauen und, ohne ihre Last tragen zu müssen, auch wieder zurücklegen. Als wären sie nicht länger ein Teil von mir, sondern nur schlecht sitzende Kleidungsstücke, die ich in der hintersten Ecke des Kleiderschranks vergessen hatte.
»Das fühlte sich so echt an.«
»Es sind nur Gedanken, die aus deinem Inneren kommen.«
»Aber alle Taten sind doch tatsächlich geschehen und Entscheidungen auch wirklich gefallen.«
»Was geschehen ist, ist geschehen, das ist so, aber sieh diese Ereignisse als Erinnerungen und Erfahrungen. Betrachte sie mit Abstand, und vergib dir selbst.«
»Ich fühle mich so komisch. Was hast du mit mir gemacht?«
»Ich habe dir mein Licht geliehen.«
»Siehst du alles auf diese Art und Weise?«
»Nein. Du siehst alles so, wenn du durch das Licht schaust.«
»Durch dein Licht.«
»Bis du dein eigenes findest.«
»Hallo, hier ist Mikael.«
»Ich hör’s.«
»Störe ich?«
»Überhaupt nicht.«
Er bemerkte, wie sie aufstand und eine Tür schloss. »Bist du bei der Arbeit?«
»Ich habe gerade Pause, kein Problem.«
»Wir können auch später telefonieren, ich will auch gerade ins Büro fahren.« Mikael lehnte sich zurück in den Fahrersitz und nahm das knautschende Geräusch des weichen Leders wahr.
»Nein, nein …« Ihr Protest kam sofort.
»Ich wollte mich nur noch einmal für den letzten Abend bedanken. Du hast so gut gekocht.«
»Ich danke dir. Für den Wein und … dass du vorbeigekommen bist.«
Dann wurde es für ein paar Sekunden still im Handy. »Ja, und dann der Schluss …. Ich hätte das wahrscheinlich nicht tun sollen.«
»Und ich hätte das wahrscheinlich nicht sagen sollen.«
»Tja.«
Ein längere Pause entstand. Nur Sofias Atmen, das wie kleine Luftstöße in die Leitung zischte, war zu hören.
»Aber ich habe es ernst gemeint«, sagte sie schließlich. »Ich
bin
froh, dass wir uns kennengelernt haben.« Sie seufzte. »Ich fühle für dich etwas, das ich seit Jahren nicht mehr gefühlt habe.«
Mikael rang nach Atem. Spürte einen Schmerz im Hals. »Du bist die Schwester meiner verstorbenen Frau. Ich habe sie geliebt. Ich liebe sie immer noch«, sagte er tonlos. Als ob er sich die Worte zurechtgelegt hätte.
»Ich weiß. Auf meine Art liebe ich sie auch. Das Ganze wäre nie passiert, wenn sie noch am Leben wäre, auch wenn sie zugelassen hätte, dass wir uns über den Weg laufen. Das ist uns beiden klar. Wir können aber kein schlechtes Gewissen wegen etwas haben, das nicht passiert ist.«
»Ich habe es trotzdem. Und auch wegen dem, was passiert ist.«
Sofia machte eine kurze Pause. »Ich weiß«, sagte sie dann. »Mir geht es genauso.«
»Das, was Melvin gesagt hat …« Mikael zögerte. »Das hat mir Angst gemacht. Sie war bei uns.«
»Kinder haben so viel Phantasie, wir haben doch keine Ahnung …« Sofia verstummte.
»Du hast es doch selbst erlebt, Sofia, es war dein eigener Sohn, der sie gesehen hat. … Sie hat geweint, hat er gesagt.«
»Ja.«
»Es ist auch nicht gerade schwer zu erraten, worüber sie so verzweifelt war, stimmt’s? Wahrscheinlich auch wütend.«
»Mikael, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich glaube nicht an Geister. Und du auch nicht, hast du gesagt.« Für einen Augenblick hielt Sofia die Luft an, um sie dann seufzend wieder auszuatmen. »Aber gut, sagen wir, sie war da. Als eine Art unseliger Geist. Sagen wir, sie war wütend. Vielleicht muss man sie einfach wütend sein lassen.
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