Der Himmel so fern
»Sie lag da auf dem Boden unter dem Gerüst«, sagte sie, »und eine der Erzieherinnen, die ganz in der Nähe standen, eilte herbei. Sie hat offenbar gleich gewusst, was passiert ist, denn Evelinas Weinen war ganz anders als das übliche Gejammer bei den Schürfwunden, und ich hörte, wie sie einer Kollegin zurief, sie solle einen Krankenwagen rufen, um mit ihr in die Klinik zu fahren.«
»Aber das ist ja furchtbar«, brach es aus mir heraus. »Was ist dann passiert?«
»Der Krankenwagen kam, und die Sanitäter hoben sie vorsichtig auf eine Trage und schoben sie ins Auto. Eine andere Erzieherin rief Erik an und teilte mit, in welches Krankenhaus sie Evelina brachten, und ein paar Minuten nachdem der Krankenwagen angekommen war, traf er ein. Er muss sofort alles stehen- und liegengelassen haben und ins Auto gesprungen sein. Evelina bekam eine Spritze gegen die Schmerzen und wurde sofort vom Krankenhauspersonal untersucht. Erik war die ganze Zeit bei ihr und hielt ihr die Hand des gesunden Arms. Er sprach mit ihr und lobte sie, dass sie so tapfer sei, und als das Medikament zu wirken begann, fing er an, mit ihr Witze zu machen. Er dachte sich eine Geschichte nach der anderen aus, und sie handelten alle von Kuscheltieren, die von irgendetwas hinunterfielen und sich irgendetwas brachen. Er machte sogar kleine Zeichnungen auf Papierservietten, weil er im Behandlungszimmer nichts anderes finden konnte. Und er erzählte ihr, dass er sich selbst einmal den Fuß gebrochen hatte, als er klein war, und einen berühmten Hockeyspieler dazu bringen konnte, auf seinem Gips zu unterschreiben, und wie er diesen Gips noch jahrelang in einem Schrank aufbewahrt hatte. Natürlich hat sie die Hälfte von dem, was er erzählt hat, nicht mitbekommen, aber seine Stimme beruhigte sie, und er ließ sie keine Sekunde allein.«
Anna schniefte, die Geschichte ging ihr sehr zu Herzen, und wir warteten still, bis sie sich wieder gesammelt hatte.
»Als Evelina am Ende einschlief, konnte ich sehen, wie Erik zusammensackte, und mir wurde klar, unter welcher Anspannung er die ganze Zeit gestanden hatte. Einen Anruf im Büro zu bekommen und zu erfahren, dass das eigene Kind im Krankenhaus liegt, ist ein regelrechter Albtraum. Ich hatte die ganze Zeit an der anderen Bettseite von Evelina gesessen, aber als ich sah, wie erschöpft Erik war, ging ich um das Bett herum und legte meine Arme um ihn. Ich wollte beiden so gerne Kraft spenden, aber als ich sie da sitzen sah, wie Erik Evelina über ihr schlafendes Gesichtchen streichelte, da wurde mir mit einem Mal bewusst, dass sie gut klarkamen. Auch ohne mich.«
Birger und ich lauschten ihren Worten, ohne einen Mucks von uns zu geben. Es hätte eine traurige Geschichte über ein verunglücktes Kind werden können, doch in Annas Gesicht konnte man nach wie vor nur eine Art Ruhe ablesen, die ich nie zuvor an ihr gesehen hatte. Sie unterbrach ihre Erzählung für eine Weile und versank in Gedanken, dann setzte sie von neuem an.
»Er hat all das getan, was ich selbst getan hätte, wahrscheinlich hat er es sogar besser gemacht, und ich sah, wie geborgen und ruhig Evelina sich fühlte, weil er da war. Wie sie seine Geschichten und seine Witze von ihren Schmerzen und der unheimlichen Krankenhausumgebung mit all diesen Apparaten, Spritzen und fremden Menschen, die sie behandelt hatten, abgelenkt haben.«
»Das klingt, als wäre Erik ein guter Vater für Ihre Tochter.« Ich lächelte vorsichtig.
»Der Beste. Er wird nie meinen Platz einnehmen können und ihre Mama sein, aber er ist der beste Papa der Welt, und wissen Sie …«
Sie sah uns mit großen Augen an, und es glitzerte darin, wie eine kleine, feuchte Welle, die über die Oberfläche rollt. »Ich glaube, dass das reicht.«
Birger machte ein nachdenkliches Gesicht. »Was meinen Sie damit?«, fragte er nach.
»Ich meine, dass Evelina zurechtkommen wird. Dass sie das hat, was sie braucht.«
»Und Sie?«
»Als dieser Unfall geschah, wurde mir bewusst, dass ich nichts tun kann, um so etwas zu verhindern, es gehört zum Leben dazu. Sie wird wieder stürzen und sich weh tun. Sie wird auch mal traurig sein oder unglücklich verliebt. Sich einsam fühlen. Aber sie wird es überstehen. Erik ist da. Und die Großeltern. Und ihre Tanten und Kusinen. Und Freunde und Erzieherinnen. Sie wird zurechtkommen.« Anna fiel es schwer zu sprechen, und sie schluckte, um ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Und ich werde auch für sie da sein, aber nicht
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