Der Himmel über der Heide (German Edition)
nicht einen Tag gegeben hatte, an dem Kati nicht unter dem Verlust litt. An manchen Tagen war es unerträglich. Die Tiefs kamen mit unschöner Regelmäßigkeit. Etwa, wenn sie das erste Eis im Frühjahr aß oder den ersten Spekulatius im Herbst. Auch wenn bestimmte Filme oder Serien im Fernsehen wiederholt wurden, dachte Kati mit erstickender Sehnsucht an ihre Schwester. Es waren Erinnerungen an ihre Kindheit, süßlich und bitter zugleich.
Kati schluckte und wollte gerade aufstehen, als ihr Blick auf die kleine weiße Kiste fiel, die unter dem Schrank stand und in der Jule ihre persönlichen Dinge aufbewahrt hatte. Schon damals, nach Jules Tod, hatte Kati nicht gewagt, einen Blick hineinzuwerfen. Und auch heute gab es für sie keinen Grund, in die Privatsphäre ihrer Schwester einzudringen. Sie horchte auf, als jemand die Treppe hochkam.
Die Holzdielen im Flur knarrten unter den langsamen Schritten. Kurz darauf steckte Elli ihren Kopf ins Zimmer und sah Kati überrascht an. Doch sie sagte nichts, sondern trat vorsichtig ins Zimmer und setzte sich neben sie aufs Bett. Eine Weile saßen die beiden Frauen schweigend nebeneinander. Dann strich Elli ihrer Enkelin zärtlich über die Wange.
«Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du dich dazu überwunden hast. Es wurde höchste Zeit, dass du mal in Julias Zimmer gehst!»
Kati schloss ihre Großmutter fest in die Arme. Es tat so gut, dass Elli offensichtlich auch ohne große Erklärungen verstand, was in ihr vorging. Damals war das Haar ihrer Großmutter in kürzester Zeit schneeweiß geworden. Kurz überlegte Kati, ob sie Elli von der Begegnung mit Andi erzählen sollte. Aber sie wollte ihre Großmutter nicht unnötig aufregen. Elli hatte schon weiß Gott genug Probleme, und sie machte sich bestimmt auch so genug Sorgen um ihre Enkelin.
Als sie sich wieder voneinander lösten, sagte Kati mit fester Stimme: «Wir müssen Dorothees Vorhaben verhindern! Auch wenn es vielleicht blöd klingt, aber ich habe das Gefühl, wenn der Heidehof verkauft wird, stirbt Jule ein zweites Mal.»
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11
Die nächsten Tage auf dem Heidehof vergingen in quälender Routine, doch Kati war froh um jeden Handgriff, der sie ablenkte von den diversen Baustellen in ihrem Kopf.
Ihrem Vater schien es zwar von Tag zu Tag besser zu gehen, doch ihre innere Anspannung ließ kaum nach. In den Nächten lag sie lange wach. Die Erinnerungen an Jule und die Brandnacht spukten ihr im Kopf herum und ließen sie nicht schlafen. Und wenn sie doch einmal die Augen schließen konnte, wurde sie von ihrem immergleichen Albtraum heimgesucht. Mehrfach wachte sie nachts schweißgebadet auf. Und morgens fiel es ihr immer unglaublich schwer, aus dem Bett zu kommen.
Der einzige Lichtblick war ein aufgeregter Anruf von Flo am Freitagmorgen. Sie erklärte, das Metromedia-Projekt sei in trockenen Tüchern und Gero habe sich nochmals zu einem Lob hinreißen lassen. Und er hatte ihr überraschend einen freien Tag zugestanden. Für Flo bedeutete dies ein verlängertes Wochenende, das sie unbedingt bei Kati in der Heide verbringen wollte.
Kati konnte noch immer nicht glauben, dass Flo wirklich Lust hatte, ihre kostbaren Urlaubstage auf dem Heidehof zu verbringen. Ob tatsächlich der Aushilfskoch hinter dem wachsenden Interesse steckte? So oder so, Kati freute sich wahnsinnig auf den Besuch ihrer Freundin.
Kati beschloss, vormittags noch im Krankenhaus vorbeizufahren, bevor sie Flo vom Bahnhof abholte. Allerdings war ihr nicht ganz wohl bei der Vorstellung, ihrem Vater womöglich etwas vormachen zu müssen, falls er sich nach den Vorgängen auf dem Hof erkundigte. Überhaupt wusste Kati nicht, ob sie ihm von der ganzen Sache mit Frank Lehmann erzählen sollte. Er durfte sich bestimmt nicht aufregen. Sie würde vorher mit Dorothee und Elli darüber reden müssen.
***
«Ist es so schlimm?», fragte Flo und musterte Kati vom Beifahrersitz.
Keine zwei Minuten waren vergangen, seitdem sie sich am Bahnhof begrüßt hatten und in den Wagen gestiegen waren.
«Was meinst du?», fragte Kati und startete den Motor.
«Ich merke doch, dass du total neben der Spur bist. Ist es wegen Simon? Also, wenn du mich fragst, hat er es nicht verdient, dass du seinetwegen so lange leidest!»
«Ach, lass mich doch in Ruhe mit Simon!», schnauzte Kati und bereute ihren Tonfall noch in derselben Sekunde. Sie starrte auf die Fahrbahn und spürte, dass Flo sie irritiert ansah.
«Sorry», seufzte sie, «das war
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