Der Himmel über der Heide (German Edition)
Flo, die noch immer Katis Hand fest gedrückt hielt, hatte glasige Augen und seufzte tief.
«Es tut mir so unglaublich leid», sagte sie leise und schüttelte fassungslos den Kopf. «Ich hatte ja keine Ahnung, was du durchmachen musstest!»
Kati sah ihre Freundin dankbar an.
«Sie fehlt mir jeden Tag», flüsterte sie. Ihre Lippen zitterten, und doch erfüllte sie eine riesige Erleichterung, weil sie endlich einmal alles ausgesprochen hatte. Dass sie ihrer Freundin Flo endlich die ganze traurige Geschichte ihrer Zwillingsschwester erzählt hatte.
Eine Weile blieben sie schweigend sitzen. Jede der beiden Frauen hing ihren Gedanken nach.
Irgendwann schüttelte Flo den Kopf, so als wollte sie sich weigern zu glauben, dass all das Schreckliche wirklich passiert war. Dann fand sie ihre Sprache wieder und fragte: «Und wie lange ist das jetzt genau her?»
«Zehn Jahre und zehn Monate», antwortete Kati und sah mit leerem Blick auf den Feldweg. Nach einem Moment des Schweigens erzählte sie weiter, warum sie damals so bald darauf auf Interrailtour und nach Barcelona gegangen war. Weg von allem. Sie hatte es nicht geschafft, wie geplant eine Ausbildung in einem Hotel in der Gegend zu machen. In der Heide hätten die Erinnerungen sie nie zur Ruhe kommen lassen. Deswegen war sie von Uhlendorf fort und ins Ungewisse aufgebrochen. Barcelona schien Kati damals weit genug entfernt, um länger zu bleiben.
«Und jetzt», erklärte Kati, «nach dem Zusammenbruch meines Vaters habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich die Familie seit damals im Stich gelassen habe.»
«Das heißt also, du hast Schuldgefühle?», fragte Flo.
«Ja, sicher.» Kati räusperte sich. «Ich meine, Elli und Hinrich und sogar Dorothee haben schließlich auch gelitten, aber sie konnten nicht einfach abhauen und vor den Erinnerungen weglaufen.»
«Und deswegen hängst du dich jetzt so rein in die Arbeiten auf dem Heidehof», sagte Flo, und es klang mehr wie eine Feststellung.
«Kann schon sein. Der Hof ist der Ort, an dem Jule und ich mehr als 20 Jahre gemeinsam verbracht haben. Hier waren wir sehr glücklich.»
«Könntest du dir denn vorstellen, ganz hierher zurückzukehren?»
Kati sah Flo an. «Ja, vielleicht kann ich das tatsächlich.» Es war das erste Mal, dass sie diesen Gedanken laut ausgesprochen hatte.
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12
Elli und Pit standen in der Küche an der großen Arbeitsplatte, als Kati ihren Kopf zur Tür hereinsteckte. Es dauerte einen kleinen Moment, ehe die beiden sie bemerkten. Denn Elli garnierte gerade mit sparsamen, gekonnten Handgriffen eine Torte, und Pit schaute ihr aufmerksam über die Schulter.
«Wir haben Besuch», erklärte Kati und zog Flo hinter sich her in die Küche.
Sofort legte Pit ein breites Grinsen auf und tippte Elli auf die Schulter, die Flo inzwischen richtig liebgewonnen hatte.
«Verstärkung!»
«Wer schleicht sich denn da an?!», fragte Elli erfreut.
Sie legte den Spritzbeutel zur Seite, wischte sich die Hände an der Schürze ab und schloss Flo zur Begrüßung herzlich in die Arme. Pit stand etwas unbeholfen daneben. Als Flo ihm die Hand reichte, beschwerte er sich lauthals: «Warum werde ich nicht umarmt? Bloß, weil ich ein Mann bin?»
«Ein Mann?», fragte Flo und musterte ihn skeptisch.
Er hatte seine mittelblonde Mähne mit einem Band hinten zusammengenommen und trug Hinrichs blau-weiß gestreifte Schürze, die ihm viel zu groß war.
Pit boxte Flo zur Strafe spielerisch in die Seite und ließ es sich dann gern gefallen, dass Flo ihm ein angedeutetes Handküsschen zuwarf.
Kati schlug vor, Flo ins Gästezimmer zu begleiten, damit sie ihre Sachen wegbringen und sich frisch machen konnte.
Doch ihre Freundin winkte ab. «Ach, das läuft doch nicht weg.» Sie stellte ihre Tasche in einer Ecke ab und betrachtete Ellis Torte. «Ich würde gern deiner Oma zuschauen und was lernen an diesem Wochenende. Was ist das zum Beispiel für ein Kuchen?», fragte sie und deutete auf die Arbeitsplatte.
«Eine Buchweizentorte», antwortete Elli, sichtlich erfreut, dass sich jemand ernsthaft für ihre Arbeit zu interessieren schien. «Ich muss noch mehr Böden fertig machen. Wenn du willst, kannst du mir helfen. Sahne schlagen, Pflaumen schneiden …»
«Ich dachte, du wolltest heute die erste Johannisbeerentorte machen?», fragte Kati irritiert. Schließlich hatte ihre Großmutter erst am Morgen erklärt, wie voll die Büsche in diesem Jahr waren und dass die Früchte langsam reif sein
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