Der Himmel über Kasakstan
Moskau. Ich bin von Moskau hier eingesetzt. Ich bin eine ›Heldin der Nation‹! Glaubst du, sie könnten mich einfach wegschaffen? Das ganze Gebiet zwischen Judomskoje und Undutowa würde aufstehen und die Leute von der NKWD erschlagen! Ich habe nur Freunde hier, Svetlana.«
»Es gibt keine Freunde, wenn das Wort Karaganda fällt. Freunde hat nur der Beliebte … der Mißachtete hat nur Feinde. Ich weiß das doch, Natascha Trimofa. Ich habe es doch erlebt.«
»Du bist eine Deutsche. Das ist etwas anderes.«
»Und du bist dann ein Saboteur. Das ist das gleiche.«
Natascha Trimofa winkte ab. »Mach dir keine Gedanken darüber. Ich helfe euch, weil ich euch helfen muß. Warum … das geht dich nichts an!« Sie wandte sich ab und räumte die Instrumente wieder in den Schrank. Dann setzte sie Wasser auf die Feuerstelle, entfachte die Glut neu, indem sie hineinblies und trockenes Reisig auflegte, und hängte einen Kessel mit Wasser an einen eisernen Haken über das Feuer.
»Wenn Boris zurückkommt, werden wir einen Tee trinken und dann sofort aufbrechen. Wir müssen am Balchasch-See sein, wenn die Sonne aufsteigt. Am See sind wir sicher. So weit sind die Herden am frühen Morgen noch nicht.«
Svetlana setzte sich an den Tisch. »Weiß Bor, wer es war?« fragte sie ängstlich.
»Nein«, log Natascha Trimofa.
»Das ist gut so.« Svetlana blickte auf ihren Schoß. »Bis auf dies war er immer gut zu mir. Ich verdanke ihm mein Leben.«
Natascha Trimofa schwieg. Es war ein verbissenes, feindliches Schweigen. Nur ihre Augen leuchteten voll Triumph.
*
»Steh auf, du Hund!« sagte Boris.
Er stand vor Borkin, der neben dem Bett auf der Erde lag und keuchte. Blut rann ihm über die Augen … die Stirn war aufgeschlagen. Ich bin so müde, dachte Borkin. So unendlich müde. Sussja hat mich zugrunde gerichtet. An Sussjas Liebe sterbe ich. Ich habe keine Kraft mehr, diesem Bären dort zu trotzen.
Taumelnd erhob er sich und hielt sich an der Fußwand des Bettes fest. Durch einen Schleier von Blut und Schweiß, der vor seinen Augen lag, sah er Boris fast riesenhaft vor sich stehen. Er hatte die Nagaika in der Hand, mit der Borkin sonst die Hunde schlug oder Fedja oder Sussja oder die anderen Knechte, ganz wie er Laune hatte. Die Peitsche mit den eingeflochtenen Stahlsaiten.
»Ich kann keinen Liegenden töten«, sagte Boris mit ruhiger Stimme. Sie war für Borkin weit, weit weg. »Wehr dich, Iwan Kasiewitsch. Ich will dich nicht erschlagen wie einen angeschossenen Fuchs.«
Borkin hob die Hand und schlug zu. Es war ein matter Schlag. Gleichzeitig damit traf ihn der erste Hieb der Nagaika.
Stumm fiel Borkin auf die Knie und hielt die Arme über seinen Kopf. Wenn ich schreie, wird doch niemand kommen, dachte er traurig. Fedja wird es mutwillig überhören, und Sussja schläft fest. Niemand liebt mich … ich bin schon ein armes Luder. Und wenn ich jetzt schreie, ohne Sinn und ohne Zweck, wird man sagen: Er starb wie ein echter Feigling. Aber ich bin nicht feig … ich bin nie feig gewesen. Ich habe den Bären mit dem Spieß gejagt und die Wölfe allein im vereisten Wald am Balchasch-See geschossen. Aber ich hatte wenigstens einen Spieß oder ein Gewehr. Jetzt habe ich nichts. Gar nichts. Nicht einmal eine Stimme, die schreien kann …
Er spürte, wie die aufgesprungene Strieme über seiner Stirn brannte. Mit geschlossenen Augen wartete er auf die nächsten Schläge.
»Steh auf!« sagte die ruhige Stimme Boris. »Wenn jemand kniet, dann nur vor Gott!«
»Gott?« Borkin hob den Kopf und sah Boris aus blutverschmierten Augen an. »Du redest von Gott, während du mordest?!«
»Auch hierbei sieht Gott zu!«
»Er wird dich strafen, wenn es ihn gibt!«
»Er soll es!« Boris' Stimme war hell und hart. Als wenn der Klöppel gegen eine eherne Glocke schlägt, dachte Borkin lyrisch. »Ich nehme alle Strafe auf mich, wenn es dich nicht mehr gibt!«
»So sehr haßt du mich?«
»Denk an Svetlana, du Hundesohn.«
»Ich habe sie geliebt wie du! Aber ich habe sie nicht freiwillig bekommen! Sie sollte an meiner Seite ein Leben haben, wie es sonst in Märchen zu lesen ist. Glaub es mir, Boris. Ich wollte ihren Widerstand brechen und sie hinterher belohnen, wie nie ein Mädchen belohnt worden ist.«
Ein neuer Schlag der mit Stahlsaiten durchflochtenen Nagaika traf Borkin quer durch das Gesicht. Sein Mund riß auf, als sei das Gesicht gespalten worden.
»Oh!« stöhnte er. »Oh!«
»So erschlägt man einen tollen Hund«, sagte Boris.
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