Der Himmel über New York (German Edition)
Blicke. Auf der letzten Stufe hält mich ein schwarz gekleideter Mann mit Pferdeschwanz und Walkie-Talkie zurück. »Du kannst hier nicht durch, es wird gerade gedreht!«
Schließlich kann ich doch einen Blick auf die Szenerie erhaschen. Das ganze untere Stück der 2 nd Avenue ist von Straßensperren abgeriegelt. Gerade bewegen sich zwei Wagen in Schrittgeschwindigkeit in Richtung Houston Street. Das Kamerateam sitzt auf dem vorderen und filmt ein Paar in einem Cabrio. Der Mann hinter dem Lenkrad (in welchem Film habe ich den doch kürzlich gesehen?) steuert das Auto nicht selbst. Es steht auf einem fahrbaren Untersatz, umstellt von gleißenden Scheinwerfern. Sieht so aus, als würde es vom Kamerawagen gezogen.
Anscheinend hat sich das Paar im Auto gerade gestritten. Er schaut starr geradeaus, sie hat den Ellenbogen im offenen Fenster abgestützt und sieht traurig durch die Menge der Zuschauer hindurch, die ihr vom Bürgersteig aus zuwinken.
Auch sie kenne ich aus dem Kino. Sie ist wunderschön. Sie ist ein Star. Ihr zuliebe werden in New York Straßen gesperrt.
Aber neidisch? Neidisch bin ich nicht.
Es ist noch nicht so lange her, da hätte ich diese Begegnung für ein Zeichen gehalten. Für ein Omen, für einen Blick in die Zukunft. Dass eines Tages ich an diesem Platz in diesem Auto auf dem fahrbaren Untersatz sitzen könnte, dass es mein Gesicht sein könnte, das weltweit in Großaufnahme von der Leinwand schaut. Aber das war früher. Als ich noch an Märchen glaubte und noch zu wenig wusste von den echten, den wahren Geschichten. Einer Liebesgeschichte ohne Happy End. Einer Geschichte von einem Jungen in Turnschuhen mit einem grünen Blinklicht.
Nein. Mein Platz wird woanders sein.
Ein Klingelton ertönt aus den Tiefen meiner Handtasche, und ich brauche einen Augenblick, um zu merken, dass es mein eigenes Handy ist, das da bimmelt. Amerikanisches Fabrikat, amerikanische Telefonnummer. Leroy hat sein Versprechen gehalten. Er hat mir wirklich ein neues gekauft.
Ich blicke auf die Nummer im Display, dann drücke ich den Anruf weg.
Ich gehe die Treppe wieder hinunter in den U-Bahn-Schacht, einen langen Gang hindurch, nehme den anderen Ausgang und schlage dann einen weiten Bogen, bis ich auf Höhe der 6 th Street in Richtung Osten weitergehen kann. In der Avenue A komme ich an einer Bar vorbei. Musik und Stimmen dringen durch den Windfang. Mittlerweile ist es elf und ich kann noch eine Pause gebrauchen.
Bevor ich es ihm sage.
Ich schiebe den Samtvorhang zur Seite und betrete das Lokal.
Der Raum ist dunkel und schlauchartig, hinten steht eine Holzbühne mit einem ausgetretenen Perserteppich darauf. Eine Band spielt. Der Saxofonist hat sein Hemd weit aufgeknöpft und beugt sich elastisch zurück, wenn er in sein Instrument bläst. Der Schlagzeuger ist in ein langes Gewand mit afrikanischen Mustern gehüllt, das seine Beine bis zu den Knöcheln und seine Finger bis zu den rosigen Nägeln bedeckt. Seine Handgelenke sind beweglich wie Gummibänder. Es sieht aus, als schüttelte er die blechernen Töne aus dem Ärmel.
Vor der Bar drängen sich die Menschen, aber die Tanzfläche ist leer bis auf eine Frau. Sie hat ihre dunklen, von grauen Fäden durchzogenen Haare hochgesteckt und trägt ein ärmelloses Kleid, aber keine Schuhe. Sie tanzt barfuß, windet sich im Rhythmus der Musik, ist von den Zehen bis zu den Fingerspitzen, von den Hüften bis zum Haaransatz in Bewegung.
Keiner beachtet sie. Das scheint sie nicht zu stören, im Gegenteil. Sie sieht nicht aus, als wollte sie jemanden beeindrucken oder einen Mann auf sich aufmerksam machen. Sie tanzt, als könnte sie sich damit selbst glücklich machen.
»Ein kleines Bier, bitte!«, sage ich zum Barkeeper. Er hält seine Hand wie einen Trichter an sein Ohr, zum Zeichen, dass er mich nicht verstanden hat.
»Ein kleines Bier!«, sage ich noch lauter.
Er blickt mich an und zieht die Augenbrauen hoch.
»Corona!«, rufe ich. Schließlich zuckt er mit den Achseln, entkorkt die durchsichtige Bierflasche, schneidet eine Limonenhälfte mit einem langen Messer in drei Schnitze und steckt einen davon in den Flaschenhals.
Ich schiebe ihm einen Zehn-Dollar-Schein über den Tresen, drücke den Limonenschnitz ganz in die Flasche, setze sie an und nehme einen Schluck. Der saure Saft vermischt sich mit Bier.
Die Frau dort vorne tanzt noch immer.
Ich habe die Szene unzählige Male im Kino gesehen: eine Frau, die ihren Koffer packt und verschwindet, ohne den Mann noch
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