Der Hof (German Edition)
überqueren. Autos parken am Straßenrand. Dunkle Metallsilhouetten, die Kälte verströmen. Aus dem Augenwinkel entdecke ich eine Gestalt, die sich aus den Schatten löst und in unsere Richtung kommt.
Ich gehe weiter und habe den Arm beschützend um Chloe gelegt. Der Mann ist ein großer, bulliger Kerl in einer dicken, wattierten Jacke. Seine Beanie-Mütze hat er fast bis zu den Augen heruntergezogen.
«Haste mal die Uhrzeit?», fragt er. Seine Hände stecken in den Jackentaschen, aber am Handgelenk der Linken kann ich seine Uhr aufblitzen sehen. Mein Herz fängt an zu rasen. Wir hätten wohl doch lieber ein Taxi nehmen sollen.
«Zehn nach drei», sage ich und schaue nur flüchtig auf meine Uhr. Sie ist ganz neu, ein Geburtstagsgeschenk von Chloe. Ich versuche, mich nicht allzu offensichtlich vor sie zu schieben, als er einen Schritt auf uns zumacht. Eine seiner Hände kommt langsam aus der Jackentasche und hält etwas Metallisches umfasst.
«Lenny?»
Der Mann bleibt stehen. Er schwankt. Ob er betrunken ist oder es einen anderen Grund dafür gibt, kann ich nicht erkennen. Chloe macht einen Schritt nach vorne.
«Lenny, ich bin’s. Chloe.»
Er schaut sie einen Moment lang an, dann nickt er ganz leicht.
«Wer ist das?»
Er zeigt auf mich, ohne sie aus den Augen zu lassen.
«Ein Freund.»
Sie versucht, ihre Anspannung vor mir zu verbergen. Wer dieser Mann auch ist, sie hat Angst vor ihm.
Er lächelt schwach. «Ein Freund.»
Seine Hand steckt noch halb in der Tasche, als habe er sich noch nicht entschieden. Ich will sie fragen, wer er ist und was hier eigentlich los ist. Aber mein Hals ist wie zugeschnürt.
«Also dann … mach’s gut, Lenny.»
Chloe packt meinen Arm und zieht mich mit sich. Sie geht voran, und Lenny rührt sich nicht. Ich spüre, wie er hinter uns herstarrt. Meine Beine bewegen sich hölzern. Als wir die andere Straßenseite erreichen, drehe ich mich um, aber die Straße ist leer.
«Wer war das?»
Ich bin wütend, weil ich fast flüstere. Chloe zittert neben mir. Ihr Gesicht wirkt klein und blass, und ich weiß nicht, ob das an der Kälte liegt oder andere Gründe hat.
Die Wohnung liegt im obersten Stockwerk eines gedrungenen Betonkomplexes. Wir gehen durchs Treppenhaus, in dem es immer nach Pisse stinkt, und schließen die Wohnungstür auf. Die Wohnung ist so wenig das Atelier einer Künstlerin wie nur irgendwas, aber die Oberlichter im Flachdach geben dem Raum viel Helligkeit. Und Kälte. Außerdem ist die Wohnung billig. Die Terpentindämpfe und der Geruch nach Ölfarben liegen schwer auf meiner Zunge, sobald wir in der Wohnung stehen. Keiner von uns macht Anstalten, das Licht einzuschalten. Ihre Leinwände stehen an den Wänden unseres Wohnzimmers aufgereiht. Weiß umrahmte Rechtecke, auf denen die Bilder in der Dunkelheit nicht zu erkennen sind. Ein unfertiges Porträt von mir steht auf der Staffelei am Fenster.
Ich stehe in der Tür zum Schlafzimmer und sehe zu, wie Chloe den Heizstrahler einschaltet. Ein leises Summen kommt von dem Gerät, als das Heizelement sich aufwärmt und gelb glüht.
«Wirst du mir erzählen, was da gerade passiert ist?»
Chloe wendet mir den Rücken zu und beginnt sich auszuziehen. «Das war jemand, den ich mal kannte.»
In meiner Brust und meinem Hals schwillt etwas an. Es dauert einen Moment, bis ich erkenne, was es ist. Eifersucht.
«Du meinst, du bist früher mit ihm ausgegangen?»
«Mit Lenny?» Ihre Überraschung ist echt. «Gott, nein.»
«Und was dann?»
Sie kommt in Unterwäsche zu mir und legt die Arme um mich. «Sean …»
Ich löse mich aus ihrer Umarmung. Ich weiß nicht, ob ich wütend bin, weil ich mich da draußen so hilflos gefühlt habe oder weil ich plötzlich den Eindruck habe, sie überhaupt nicht zu kennen. Sie seufzt.
«Er war früher Kunde in einer Bar, in der ich gearbeitet habe. Okay? Da trifft man lauter Typen. Mehr nicht.»
Sie blickt aufrichtig zu mir hoch.
«Okay», sage ich.
Ich ziehe mich auch aus, und wir gehen ins Bett. Wir liegen in der Dunkelheit und berühren uns nicht. Sogar mit dem Heizstrahler ist die Luft im Schlafzimmer eisig. Chloe rührt sich und rutscht zu mir herüber. Sie küsst mich, flüstert meinen Namen. Wir lieben uns, aber danach liege ich wach und starre im Dunkeln zum Oberlicht hoch.
«Yasmin hat da heute Abend was Komisches gesagt», erzähle ich ihr. «Sie fragte, ob es dir gut geht. Was hat sie damit gemeint?»
«Ich weiß nicht. So ist Yasmin eben.»
«Es gibt da also nichts,
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