Der Hypnosearzt
Beruhigendes.
»He? Gibt's was?«
Der Junge sagte nichts, stierte nur. Und was für ein Typ: schmal, groß, schlank, nein, eher verhungert, ein Paar zerlöcherte, an den Knien abgeschnittene Jeans, das T-Shirt zerrissen und voller Flecken und an den Füßen ausgelatschte Sandalen.
Der Junge war vielleicht drei- oder vierundzwanzig. Blöde sah er nicht aus, eher sonderbar. Das ganze Gesicht geriet in Bewegung, es zuckte, und die hellen, grauen Augen waren weit geöffnet, doch in ihnen war keine Angst zu erkennen.
Paillard blieb stehen.
Was zum Teufel war mit dem los? Hatte der 'ne Macke? Und jetzt kriegte er die verzerrten Lippen zwar auf, aber es kamen keine Worte, nur unartikulierte Töne.
»Hören Sie?« Paillard besann sich auf seinen Kundenspruch. »Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie irgendwelche Probleme?«
Der hatte Probleme. Bloß, er brachte sie nicht raus. Dann geschah etwas Verrücktes …
»Moment …« Das verstand Paillard und sah zu, wie der Bursche in seine Jeanstasche griff und einen Notizblock herausholte. Was wollte er damit? Dann hatte er tatsächlich einen Bleistift in der Hand, fing an, auf dem Notizblock herumzukritzeln, riß das Blatt ab und gab es Paillard.
Ich suche einen Unfallwagen, stand darauf. Einen R12 -Polizeiwagen.
Ganz klar stand es da. Paillard konnte es kaum glauben, das durfte ja nicht wahr sein … Der Kerl konnte nur einen einzigen Wagen meinen: den Streifenwagen aus Cavalaire, der vor einigen Wochen bei Saint-Michel in die Schlucht gefallen war.
»Und warum?«
Ein Schulterzucken, ein halbes Lächeln sogar; das Gesicht war ruhiger geworden.
»Ich bin ja ein geduldiger Mensch«, sagte Paillard, »aber mir reicht's langsam. Also, was willst du mit der Poulet -Kutsche? Ich hab hier jede Menge Blech rumstehen, Polizeiautos sind nicht darunter. Wieso interessierst du dich dafür?«
Der Junge lächelte weiter. Hätte er eine einzige vernünftige Antwort gegeben, Paillard wäre nicht dermaßen ausgerastet. Aber so? Den Hund hatte der Typ schon verrückt gemacht, und nun wollte er auch noch eine Polizistenkarre?
»Raus!« sagte Paillard. »Ganz schnell! Hörst du, verschwinde!«
Nicht einmal das begriff der Junge.
Erst als Paillard mit dem Zeigefinger der linken Hand zum Ausgang deutete und mit der rechten den Schlagring herausholte, setzte der andere sich in Bewegung. Paillard folgte ihm und gab ihm, als er nochmals stehenbleiben wollte, einen so heftigen Stoß, daß er stolperte und beinahe auf den Kies gestürzt wäre.
»He? Was soll denn das?«
Paillard drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam, die Stimme einer Frau. Nein, keine Frau, ein Mädchen. Da stand sie. Den R4, mit dem die beiden wohl gekommen waren, hatte er zuvor nicht bemerkt, der war von Laudets Laster verdeckt gewesen. Gar nicht übel, die Kleine! Nichts am Leib als einen roten Minirock und das Oberteil eines Bikinis, sehr hübsch mit den langen Haaren und verdammt sauer obendrein. Jetzt kam sie angerannt und packte ihren Freund am Arm, schüttelte gegen Paillard die Faust.
»Fabien, hat er dir was getan?«
Paillard hatte endgültig die Nase voll. Wie kam ein Halbirrer zu einer solchen Frau? Aber auch das war egal. Er ging auf seine beiden Tore zu, befestigte die Kette und hängte das Schloß ein.
Der alte R4 mit den jungen Leuten verschwand in einer Wolke von Staub. Was war mit den beiden los? Sollte er in Cavalaire anrufen und die Sache ans Kommissariat durchgeben?
Paillard beschloß, darauf zu verzichten. Vielleicht könnte er bei den Poulets ein paar Punkte sammeln, aber besser, er blieb bei der alten Marschrichtung: Bei der Polizei streck nie den Kopf aus der Deckung …
Eine Ehe hat viel Ähnlichkeit mit einem Gebäude. Zwei Menschen errichten es gemeinsam. Das war eines der Bilder, die Bergmann seinen Klienten während der Therapiestunden nahezubringen versuchte. »Es kommt dabei nicht so sehr auf die Pläne an oder die Absichten, die man verfolgt, entscheidend ist, mit welcher Ernsthaftigkeit man die tragfähige Struktur angeht. Wenn ein Partner auf seinen Bauteil nicht achtet, nichts darauf gibt, wenn Schäden entstehen oder sich Risse auftun, trifft es immer auch den anderen. Und das heißt: Man hat eine gemeinsame Verantwortung. Auch für die Defekte. Die Fassade kann noch so schön sein, wenn es dahinter nicht mehr stimmt, wird sie belanglos …«
Und so war es auch.
Bald überkam Stefan der Eindruck, daß er und Christa ein Spiel spielten. Die Rollen waren vorgegeben,
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