Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
daß ich viel zu jung sei für ihn; dabei ist er nur zehn Jahre älter als ich. Ich glaube, er wollte sich noch nicht niederlassen. Seine Eltern waren in der Zwischenzeit gestorben, und er war der einzige Sohn, der das Kindesalter überlebt hatte, also hatten sie ihm ihren Hof vererbt – aber das unstete Leben, das er in den letzten Jahren geführt hatte, übte eine große Verlockung auf ihn aus.«
»Unstetes Leben?« fragte Philipp. »Als Sänger?«
Aude starrte ihn an, sichtbar aus ihren Gedanken gerissen. »Als Sänger? Wie kommt Ihr darauf?«
»Er hat in der Herberge gesungen«, erklärte Philipp und verfluchte sich gleich darauf dafür, daß er sich wieder ein Detail aus seiner Begegnung mit Minstrel hatte entlocken lassen. Aude schlug die Augen nieder.
»Er hat eine schöne Stimme, aber daß er einmal in der Öffentlichkeit gesungen hätte ... Er muß sehr betrunken gewesen sein.« Sie machte ein verlegenes Gesicht. »Nun, um Eure Frage zu beantworten: Er zog nicht als Sänger umher, sondern als ... ein Mann, der schön schreibt? Ein Kalligraph? Niemand kann so schöne Schriften malen wie er. Man glaubt nicht, daß er es geschrieben hat, wenn man eine Seite sieht, selbst wenn man ihn dabei beobachtet hat. Um seinetwillen habe ich gelernt, die verschiedenen Schriften auseinanderzuhalten, damit ich seine Arbeit würdigen konnte.«
Philipp schüttelte ungläubig den Kopf »Ich hatte geglaubt, nur in den Klöstern würde kalligraphisch gearbeitet. Ich selbst habe ...«, er brach ab.
»In den Klöstern werden die geistlichen Schriften kopiert und bearbeitet – jedenfalls ist das bei uns so«, erwiderte Aude. »Was aber ist mit den weltlichen Urkunden? MitBelobigungen, Mitgifturkunden, Besitzüberschreibungen und dergleichen? Jeder, der etwas auf sich hält, möchte bewundernswerte Dokumente der Nachwelt hinterlassen. Etwas notieren kann jeder, aber etwas Dauerhaftes schaffen, das seinen Wert auch über Generationen nicht verliert – dazu bedarf es eines Künstlers. Geoffroi ist ein Künstler. Und als Künstler zog er im Land umher. Er sagte immer, die Arbeit kommt nicht zu einem; man muß ihr nachreisen, dann heißt sie einen willkommen.«
»Und dabei reiste er auch hierher.«
»Ich weiß nicht, wo er überall war; anfangs interessierte mich nicht mehr von ihm außer, daß er mein Ehemann würde, wenn ich das nötige Alter erreicht hätte. Als wir heirateten, wurde er ruhiger. Dann, vor drei oder vier Jahren, teilte er mir mit, er habe eine Botschaft erhalten, daß eine große Aufgabe jenseits der Grenze auf ihn warte.«
»Da ist die Arbeit doch einmal zu ihm gekommen«, sagte Philipp trocken.
»Ja; aber er schien nicht besonders begeistert. Ich hatte das Gefühl, er war beunruhigt. Ich glaube, er hatte schon einmal für diesen Auftraggeber gearbeitet. Vielleicht hatte er eine Arbeit nicht zu seiner Zufriedenheit ausgeführt und wurde nun aufgefordert, sie in Ordnung zu bringen – jedenfalls machte er ein nachdenkliches Gesicht, bevor er davonritt. Er kam erst nach vielen Tagen wieder, wortkarg und still.« Sie stockte und sah Philipp an, und er glaubte, Verletztheit und Verwunderung in ihrem Blick zu bemerken. »Er sagte mir nicht, was passiert war. Er fing nur an zu trinken. Und schrieb keine einzige Zeile mehr.«
»Ich verstehe«, sagte Philipp. »Ihr denkt, was immer ihm damals hier passiert ist, könnte sich jetzt wiederholen und die ganze Sache noch schlimmer machen.«
Plötzlich entstand ein Szenario vor seinen Augen: Minstrel, der von Radolf angeworben wurde, seine Mitgiftstreitigkeiten auf demselben Weg zu klären, den Kardinal da Uzzano schließlich mit Hilfe Philipps zu beschreiten begann. Doch Minstrels Künste hatten vor dieser heiklen Aufgabe versagt, und er hatte ein unvollendetes Werk hinterlassen. Vielleicht war er geflohen. Nach Jahren spürte Radolf ihn auf und forderte ihn auf, seine Arbeit zu beenden. Minstrel lieferte auch beim zweiten Mal nichts Brauchbares ab, und er kehrte zurück und begann an sich und seiner Kunst zu verzweifeln. Schließlich brach er ein drittes Mal zu Radolf auf – um ihn zu erpressen oder um einen letzten Versuch zu machen, seine Arbeit abzuschließen. Auf einmal war es Philipp klar, wo er wieder auf Minstrel stoßen mußte, früher oder später: auf Radolfs Besitz – dort, wohin er sowieso in der nächsten Zeit zurückkehren mußte. Er fühlte grimmige Befriedigung bei diesem Gedanken.
»So ist es«, sagte Aude. »Er ist schon lange nicht mehr der
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